Der Grimme-Online-Award-Jahrgang 2016 ist ein starker – fast so stark wie 2007! :) In der aktuellen GOA-Saison durfte ich als Mitglied der Nominierungskommission zwei Monate lang mit sechs Mitstreiter*innen nach digitalen Perlen tauchen, den Fang anschließend drei Tage lang gründlich begutachten, schließlich die besten Stücke herausfischen und sie, begleitet mit allen guten Wünschen, ins Finale schicken.
Standesgemäß, im Tagungsraum eines kuscheligen Hotels im Dortmunder Bahnhofsviertel, haben wir beraten, diskutiert und gerungen, für unsere Herzensfavoriten gekämpft, uns begeistern und uns überzeugen lassen. Wir hatten viel Spaß damit, eine Marionette auf dem Bildschirm einen dadaistischen Tanz mit GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) vollführen zu lassen – gesteuert über Bewegungen des Smartphones. Und mit Barbara, natürlich.
Pageflow-Overload
Die Vielzahl von solide gemachten Multimedia-Reportagen unter den Einreichungen zeigt: Das Format kann inzwischen auch im deutschsprachigen Web als etabliert gelten. Tools wie Pageflow, die die Realisierung einfach machen, treiben die Verbreitung voran. Umso wichtiger werden die Inhalte. Auch der schickste Scrolly nutzt ja nichts, wenn die erzählenswerte Geschichte fehlt, und manches Thema lässt sich in einem anderen Format einfach besser präsentieren.
Wenn aber alles stimmt, dann kommen tolle Storys heraus. Mich persönlich hat die Multimedia-Reportage Draußen von Kathrin Aldenhoff und China Hospon (Weserkurier) besonders beeindruckt: Die beiden waren einen Tag lang mit dem obdachlosen Peter True in Bremen unterwegs, haben seine Welt in eindrücklichen Bildern festgehalten und lassen ihn selbst von seinem Alltag erzählen – ein gutes, unspektakuläres und auch deshalb überzeugendes Stück Onlinejournalismus.
Thematisch spiegelt sich in diesem Jahrgang wider, was die Gemüter in Deutschland 2015 bewegt hat wie nichts anderes: Zahlreiche Angebote beschäftigen sich mit Flucht und Asyl, und darunter sind erfreulich viele, die einen eigenen Zugang zu dem Thema suchen. Ein gelungenes Beispiel: Sandalen im Schnee, eine Reportage vom Schweizer SRF, die dort beginnt, wo andere mit dem Berichten aufhören. Was passiert eigentlich, wenn Geflüchtete in Europa angekommen sind? Wie ist das, mit Wildfremden in Gemeinschaftsunterkünften zu leben, deren Sprache man oft nicht spricht? Welche Fragen stellen die Behörden eigentlich, wenn sie den Asylantrag prüfen? Und wie schafft man es, Anschluss an die Einheimischen zu finden – vor allem, wenn die das vielleicht gar nicht wollen?
Unter den Nominierten sind aber auch kleine, privat betriebene Angebote, und das freut mich ganz besonders. Da ist beispielsweise das historische Echtzeit-Blog Opas Krieg: Christian Mack veröffentlicht Feldpostkarten seines Großvaters, und das auf den Tag genau 100 Jahre, nachdem sie verschickt wurden. Es ist der Versuch, sich auf persönliche Weise der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ zu nähern, und das gelingt hier sehr gut – auch, weil Christian Mack das damals Geschriebene geschichtlich einordnet und den Zugang zu den Inhalten durch weiterführende Informationen leichter macht.
Dunstabzugshaube in der Gerüchteküche
Ich darf kurz aus unserem Statement zitieren:
Das Internet wird nicht nur zur Information, sondern auch und zur Zeit verstärkt zur Desinformation genutzt – gerade darum ist die Auseinandersetzung und Aufklärung wiederum im Netz wichtig: schnell und jederzeit verfügbar und aus verlässlicher Quelle, deren Vertrauenswürdigkeit sich manchmal genau daraus speist, kein Verlagshaus, keine Partei und kein Digital-Promi zu sein.
Ein Beispiel dafür ist die Hoaxmap, die Gerüchte (zumeist über Asylsuchende) sammelt und dokumentiert, wo sie widerlegt werden. Eine Art Dunstabzugshaube in der Gerüchteküche. Das Ganze wird auf einer Karte dargestellt, der ständig aktualisierte Datensatz lässt sich zudem herunterladen.
Gut vertreten: Podcasts
Gleich drei Podcasts sind im Rennen: Technische Aufklärung macht sich darum verdient, konsequent den im März 2014 eingesetzten Geheimdienst-Untersuchungsausschuss zu begleiten und dabei auch die Details zu beleuchten, die den meisten Medien zu kompliziert sind.
Nicht vergessen, nicht verklären – das ist das Ziel von Staatsbürgerkunde. Vom Leben in der DDR. Martin Fischer spricht mit wechselnden Gesprächspartnern über Aspekte wie Propaganda, Gesundheitssystem oder Ost-West-Freundschaften. Vom Stasi-Gefängnis berichtet einer, der drin saß. Aber auch einem Spaziergang auf dem Mauerweg kann man lauschen – die Folge rief Erinnerungen an meine Radtour auf dieser Strecke wach. Zu jeder Sendung gibt es viele weiterführende Links, auch Audiokommentare sind möglich.
Puerto Patida ist eine Rätsel-Hörspiel zum Mitmachen: In jeder Sendung darf sich ein neuer Kandidat über eine imaginäre Insel bewegen, Entscheidungen treffen und Charakteren begegnen, die von Podcaster Johannes Wolf verkörpert werden. Tolle Idee, sehr aufwändig produziert, sehr unterhaltsam gemacht, auch für die, die nicht mitspielen. Soeben hat die zweite Staffel begonnen.
Unbekanntes zeigen, Unbeachtetes beobachten
Zwei Twitter-Accounts sind nominiert: Wer Lust hat, einen Wanderschäfer und seine Herde zu begleiten, sollte @schafzwitschern folgen. Uns hat dieser regelmäßige Einblick in einen ungewöhnlichen Berufsalltag sehr gut gefallen. @streetcoverage dokumentiert, wo rechte Demos stattfinden (und was dort passiert): Ein Liveticker von dort, wo TV-Kameras gerade nicht hinhalten.
Und, hey: Erneut könnte in diesem Jahr ein Grimme Online Award nach Frankfurt gehen! Wie schon 2015 ist auch diesmal wieder das Städel-Museum unter den Nominierten, diesmal mit einer App: Imagoras ist ein Spiel, bei dem man einen kleinen, etwas verwirrt wirkenden Drachen namens Flux kreuz und quer durch verschiedene Gemälde schickt, um dort Aufgaben zu lösen. Gedacht ist es für Kinder, aber auch ich hatte viel Spaß damit – und konnte in Bildern, vor denen ich im Städel schon öfter stand, jede Menge neue Details entdecken.
Vorstellung und Preisverleihung in Köln
Am Ende blieb uns gar nichts anders übrig, als das volle Kontingent von 28 möglichen Nominierungen auszuschöpfen. In den Tagen danach führte das fleißige GOA-Team des Grimme-Instituts (mindestens) 28 Telefonate, um die Ausgewählten zu informieren, und ich dachte zurück an jenen Tag im Frühjahr 2007, als auch ich einen solchen Anruf bekam. Und an den Tag im Juni 2007, als ich das Ding tatsächlich in Händen hielt.
Heute nun sind die Nominierten für den Grimme Online Award 2016 in Köln vorgestellt worden. Ich drücke ausnahmslos allen die Daumen fürs Finale – die Preisverleihung findet am 24. Juni 2016 in der Kölner Flora statt.