Altes Land, Neues Land

Im Alten Land hat die Apfelernte begonnen – einige Tage frĂŒher als sonst. Der trockene Sommer hatte schon die Kirschen zeitiger reifen lassen, nun also folgen die ersten Äpfel. Vereinzelt sind Erntehelfer zwischen den Spalieren unterwegs und pflĂŒcken frĂŒhe Sorten wie die, die ich hier zum ersten Mal gegessen habe: Delbarestivale – sehr saftig! Einige Sorten sind ein bisschen blasser als sonst: Weil es zu wenige kalte NĂ€chte gab, bekommen sie in diesem Jahr nicht ganz so roten Backen. Gleichwohl, die Obstbauern scheinen zufrieden, vor allem nach dem schlechten Vorjahr. 2018 wollen sie wieder die ĂŒbliche Menge von rund 300.000 Tonnen vom Baum holen.

Finde ich auch.

Meine persönliche Ernte pflĂŒcke ich mir morgens von dem ApfelbĂ€umchen in meinem kleinen Garten. Einen schnippel ich mir gleich ins FrĂŒhstĂŒcksmĂŒsli, einen zweiten packe ich mir ein, dann setze mich aufs Rad. Denn dafĂŒr bin ich zum ersten Mal nach zehn Jahren wieder hierhergekommen: Das Alte Land zwischen Finkenwerder und Stade mit dem Fahrrad erkunden.

“Altes Land? Naja, das ist eigentlich ein Etikettenschwindel”, sagt der AltlĂ€nder, mit dem ich in Jork ins GespĂ€ch komme. Das “Herz des Alten Landes” nennt sich die Gemeinde, und rein geografisch kommt das einigermaßen hin. Allerdings: Streng genommen liegt Jork gar nicht im Alten, sondern im Neuen Land.

Neues Land? Mein GesprĂ€chspartner holt weit aus und zeigt auf die Umgebung: Vor 1000 Jahren stand hier zweimal am Tag alles unter Wasser. Die Unterelbe, die hier gezeitenabhĂ€ngig ist, ließ regelmĂ€ĂŸig die drei NebenflĂŒsse anschwellen und ĂŒberschwemmte das Hinterland. Nur ein schmaler Streifen direkt am Elbstrom blieb schon damals weitgehend trocken.

Ebbe und Flut machen sich auch an der Elbe bemerkbar

Im 12. Jahrhundert holte man Experten, um die Gegend urbar zu machen. Die HollĂ€nder wussten, wie man Land trockenlegt. Sie deichten die Elbe und die ZuflĂŒsse Schwinge, LĂŒhe und Este ein, durchzogen das Hinterland mit einem feinen Gitter aus KanĂ€len (Wettern genannt – von Watering) und integrierten auch die Fleete, natĂŒrliche WasserlĂ€ufe, in dieses EntwĂ€sserungssystem. Ergebnis: Keine regelmĂ€ĂŸigen Überschwemmungen mehr. Neues Land entstand – und erst damit brauchte jener Streifen an der Elbe einen Namen, um es von dem neugewonnenen Land zu unterscheiden. Das Alte Land war also ursprĂŒnglich nur ein Landstrich am Elbufer.

Bei Stade.

An die HollĂ€nder erinnern einige verbliebene WindmĂŒhlen und Ortsnamen wie Ladekop, Francop oder Hollern. Und die Nummerierung der drei Zonen, in die die drei NebenflĂŒsse das Alte Land zerschneiden. Im Westen hatten die HollĂ€nder mit ihrer Arbeit begonnen und sich dann im Laufe von 300 Jahren Richtung Hamburg vorgearbeitet. Die “Erste Meile”, die sie trockenlegten, erstreckt sich zwischen dem Fluss Schwinge (an dem auch Stade liegt) und der LĂŒhe, die “Zweite Meile” zwischen LĂŒhe und Este (am Rande dieses Abschnitts findet sich heute die Hase-und-Igel-Stadt Buxtehude), und zwischen Este und der SĂŒderelbe schließlich entstand die “Dritte Meile” mit den Hamburger Stadtteilen Cranz, Neuenfelde und Francop.

Ach, am besten, ich illustriere das Ganze mal:

Das Alte Land erstreckt sich sĂŒdlich der Elbe von Hamburg-Finkenwerder im Osten bis nach Stade im Nordwesten. Vor 1000 Jahren galt nur der schmale Landstrich direkt am Elbstrom als “Altes Land”, wĂ€hrend das Hinterland durch Eindeichung trockengelegt und somit “Neues Land” wurde.

GrĂŒn ist es hier – jedenfalls verglichen mit dem verbrannten Rest Deutschlands, das auf der Bahnfahrt hierher stundenlang an mir vorbeizog. Zwar hat die Trockenheit auch hier Spuren hinterlassen. Aber das Gras auf den Deichen und den Wiesen hat immerhin noch Farbe, und die wenigen Maisfelder sehen nicht so mitgenommen aus wie andernorts. Den ObstbĂ€umen hat die Hitze offenbar gar nichts anhaben können.

Das Alte Land ist fruchtbar. Es soll nichts geben, das auf den schweren Marschböden nicht wĂ€chst. Dass die AltlĂ€nder vor gut 100 Jahren begannen, sich auf Obst konzentrieren, hat mit den bitteren Erfahrungen mit DeichbrĂŒchen zu tun. Die verheerende Sturmflut von 1962, als Ernten vernichtet und zahllose Tiere ertranken, gab den letzten Ausschlag. Seitdem spielen Ackerbau und Viehzucht hier so gut wie keine Rolle mehr.

Einige von 17 Millionen.

Beherrscht wird das Alte Land nun von 17 Millionen ObstbĂ€umen. 90 Prozent tragen Äpfel, fĂŒnf Prozent Kirschen, den Rest teilen sich Pflaumen, Zwetschen, Birnen. Der trockene Sommer schadete ihnen nicht, und auch mit spĂ€ten Frösten können die Obstbauern umgehen. Mit dem Wasser aus den Wettern beregnen sie dann die BlĂŒten, die unter einer feinen Eisschicht geschĂŒtzt bleiben. Allerdings wird dafĂŒr SĂŒĂŸwasser benötigt. Mit jeder Vertiefung des Stroms wĂ€chst aber die Zone, in der sich SĂŒĂŸwasser mit Salzwasser mischt. Auch deshalb wehren sich die AltlĂ€nder vehement gegen die  nĂ€chste Elbvertiefung.

Protest am Straßenrand.

Es gibt eine ganze Reihe von Radwanderwegen im Alten Land. Ich bin die meiste Zeit auf der Obstroute  unterwegsdie in zwei Schleifen rund 80 Kilometer durchs Alte Land fĂŒhrt. Dabei fallen mir die roten Schilder auf, die an ausnahmslos jeder Ruhebank angebracht sind. Auf jedem steht das Kfz-Kennzeichen des Landkreises, gefolgt von einer vierstelligen Zahl, und die Notruf-Nummer 112.

Jede Notrufbank hat ihre eigene Kennung, bestehend aus Landkreis und Nummer.

Der Gedanke hinter den NotrufbĂ€nken: Alte Menschen sollen nicht zuhause bleiben mĂŒssen, weil sie sich draußen unsicher fĂŒhlen. Die Gewissheit, dass im Notfall schnell Hilfe zur Stelle ist, soll ihnen das leichter machen. Wen unterwegs die KrĂ€fte verlassen, kann die nĂ€chste Sitzgelegenheit ansteuern, die Notrufnummer wĂ€hlen und die Standort-Nummer der Bank durchgeben. Die Helfer wissen dann genau, wo sie hinmĂŒssen. Auch andere Kreise haben dieses einfache und effektive System bereits eingefĂŒhrt.

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Festung Grauerort

Ok, dieses Ausflugsziel liegt genau genommen nicht mehr im Alten Land, sondern etwas nördlich davon in Stade-BĂŒtzfleth: Die Überreste der preußischen Festung Grauerort finden sich direkt an der Elbe. Das Fort wurde um 1870 herum gebaut und war gedacht zur Abwehr von Feinden, die sich Hamburg ĂŒbers Wasser nĂ€hern. Geschossen wurde aus den trutzigen Mauern heraus jedoch nie.

Festung Grauerort an der Unterelbe.

Fluchtgang in der Festung Grauerort

Das teilweise verfallene Fort ist ein “Lost Place” wie aus dem Bilderbuch. Sonntags und an Feiertagen kann man die Festung Grauerort besichtigen – auf eigene Gefahr.

Schloss Agathenburg

Zwischen Stade und Horneburg liegt das Dorf Agathenburg. 1655 ließ sich die Grafenfamilie von Königsmarck, zu Reichtum gekommen durch den DreißigjĂ€hrigen Krieg, hier einen Landsitz errichten – ein Backstein-Bau mit Turm, der am erhöhten Geestkliff steht. Das Dorf, das zuvor Lieth hieß, wurde nach der ersten Schlossherrin GrĂ€fin Agathe von Königsmarck benannt.

Schloss Agathenburg.

Drei Generationen der Königsmarcks bewohnten Schloss Agathenburg, dann verschwand der letzte mĂ€nnliche Sproß unter bis heute nicht geklĂ€rten UmstĂ€nden im Schloss Hannover. Man vermutet, dass er ermordet wurde. Bekannter als ihr offenbar schwerenötiger Bruder war Maria Aurora von Königsmarck, in den Augen Voltaires die “berĂŒhmteste Fau zweier Jahrhunderte” und Ururgroßmutter einer gewissen George Sand.

Heute dient Schloss Agathenburg als Kulturzentrum, in dem Konzerte, Lesungen und Ausstellungen Raum finden. Neben der Besichtigung des Schlosses ist ein Spaziergang durch den Park sehr zu empfehlen!

Im Park von Schloss Agathenburg

Obst selbst ernten in Jork

Im Hofladen der Familie LĂŒhs in Jork bekommt man einen Korb, einen Lageplan der Plantage und Hinweise auf die erntereifen Sorten – dann kann’s losgehen: Auf dem Herzapfelhof können Besucher*innen Bio-Äpfel (und auch Kirschen oder Pflaumen) selber ernten – und dabei auch naschen. Meine Ernte bestand aus je zwei Exemplaren der Sorten Gravensteiner, Debarestivale, Jamba und James Grieve.

Apfelernte.

Mutter Flint

Margarethe Flint steht in Bronze am Alten Hafen von Stade.

Margarethe Flint steht in Bronze am Alten Hafen von Stade.

Margarethe Pape wird 1861 im Alten Land geboren – arm, und das wird sie bis zu ihrem Lebensende bleiben. In Stade bringt sie sich und ihr uneheliches Kind als Schneiderin durch.

Sie wird drei Mal heiraten und insgesamt sechs Kinder bekommen, die fast alle im Armenhaus aufwachsen. Ihre MĂ€nner sterben ihr weg. Mit ihrem dritten Mann Ludwig Flint eröffnet sie ein FischgeschĂ€ft in Stade und kutschiert Fische in einem Kinderwagen, in die sie eine Zinkwanne eingesetzt hatte, zum Verkauf auf den Pferdemarkt – immer von einem Tross Katzen verfolgt.

Noch bis ins hohe Alter von 87 Jahren steht Margarethe Flint mit ihren Fischen auf den Gassen der Altstadt. Jungs Ă€rgern sie, rufen ihr “Mutter Flint mit’m Stint” nach. Als sie mit 90 Jahren stirbt, scheint den Stadern etwas zu fehlen. So untrennbar gehörte sie zum Stadtbild, dass die Stader “Mutter Flint” am Alten Hafen ein Denkmal gesetzt haben.

Heute macht jede Stadtbesichtigung Station an dem Denkmal, und weil ich mich an diesem Morgen im Cafe direkt daneben in der Sonne niedergelassen habe, erlebe ich gleich mehrere hautnah. Drei Gruppen werden von StadtfĂŒhrerinnen begleitet – sie alle erzĂ€hlen mit viel Empathie Anekdoten ĂŒber Margarethe Flint (aus dem Gehörten kann ich diesen Artikel aufschreiben). Eine steuert sogar die Geschichte von ihrer betagten Nachbarin bei, die “Mutter Flint” als kleines MĂ€dchen noch gekannt habe. Nur bei einer Gruppe ist das anders. Sie wird von einem Mann gefĂŒhrt, und die GĂ€ste, die das Pech haben, von ihm die Stadt gelotst zu werden, erfahren lediglich das Folgende ĂŒber die Frau: “War ‘ne FischverkĂ€uferin hier in Stade. Ein ganz armes Schweinchen. So einen Hut wie hat sie ĂŒbrigens nie getragen.” Und im Weitergehen wiederholt er noch einmal: “Ein ganz armes Schweinchen.”

Das Alte Land

Die “drei Meilen vor Hamburg” sind das Alte Land. Westlich der Elbe, zwischen der Hansestadt und dem Meer, zieht sich der Obstgarten Norddeutschlands immer am Fluss entlang. Eine Foto-Slideshow. Weiterlesen →