Ich bin gerade mal wieder zu Besuch bei einer alten Freundin.
Ein halbes Dutzend Mal wohl werde ich schon hier gewesen sein, aber noch nie habe ich den Park rund um Burg Hülshoff so einsam erlebt. Die Saison hat erst zaghaft begonnen, bis April sind Museum und Restaurant im Schlosskeller montags und dienstags noch geschlossen. Das Tor zum Park aber steht auch an diesen Tagen auf. Wer durchschlüpft, findet sich nahezu alleine in der weitläufigen Anlage, die sich rund um die Burg schmiegt, kann die baumgesäumten Wege ohne Störung erkunden – und jede Bank ist frei. In meinem Rucksack sind, neben der Fotoausrüstung, auch etwas zu Essen und zu Trinken, zu Lesen und zu Zeichnen. Und ich muss nirgendwo pünktlich sein.
Ich suche mir einen Platz an der Gräfte mit Blick auf die Westseite der Burg, wo die Rautenmuster der Fensterläden ein lustiges Bild abgeben. Ich war am Vortag schon einmal da, einem der Öffnungstage: Menschen flanierten durch den Park, “Annettes Teehäuschen” am Ende der Allee, das man als Veranstaltungsort buchen kann, war fest in der Hand einer Gruppe von Frauen, die hier bei Kaffee und Kuchen beisammen saßen. Heute liegt das kleines Häuschen einsam in der Abendsonne, heute habe ich den Park für mich allein, höre ich Käuzchen und Gänsegeschnatter und in Gedanken auch das Kinderlachen vor 200 Jahren, als Annette mit ihren Geschwistern auf dem Eis Schlittschuh gelaufen ist.
Vor drei Jahren endete eine fast 600jährige Ära: Jutta Freifrau von Droste zu Hülshoff (eine Enkelin von Annettes Neffe Heinrich) übergab die Burg Hülshoff, seit dem Spätmittelalter Stammsitz ihrer Familie, an eine Stiftung. Sie hat noch immer private Räume in der Burg: Im großen Esszimmer, das zu den öffentlich zugänglichen Bereichen gehört, kommen Museumsbesucher an zwei verschlossenen Türen mit der Beschilderung “Privat” vorbei. Wohn- und Schafzimmer und auch ein Bad finden sich dahinter, verriet mir am Tag zuvor der Eintrittskartenverkäufer.
Die neue Eigentümerin, die Annette-von-Droste-Hülshoff-Stiftung, musste nach der Übernahme der Burg erstmal das Dach retten lassen: Akute Einsturzgefahr. Ich finde: Ein Dachstuhl, der noch aus dem Jahr 1417 stammt, darf das. Die Kapelle wurde neu mit Schiefer gedeckt, die Glocke saniert (Fotostrecke von den Arbeiten bei den Westfälischen Nachrichten ). Und noch immer wird gewerkelt, derzeit ist die Brücke zur Burg eingerüstet.
Die Lindenallee, der Hauptzugang zur Burg, links auf einer Zeichnung von Annette von Droste. Die Kapelle am Haus wurde erst nach ihrer Zeit, um 1870 herum, angebaut. Die Rückseite der Burg, die von Gräften umgeben ist, links auf einer Darstellung von Alexander Duncker (1813-1897). Die Wirtschaftsgebäude auf der rechten Seite gibt es auch heute, sind auf Dunckers Bild aber deutlich zusammengerückt.Melancholische Freundlichkeit
1826 ist Annettes Leben auf der Burg abrupt zuende. Ihr Vater stirbt, der jüngere Bruder Werner übernimmt Hülshoff als Alleinerbe und zieht mit seiner wachsenden Familie ein, während Therese von Droste-Hülshoff mit ihren beiden Töchtern in den Witwensitz, Haus Rüschhaus, übersiedelt, knapp fünf Kilometer entfernt.
“Rüschhaus in seiner bekannten melancholischen Freundlichkeit”, wie Annette es beschreibt, liegt im März 2015 noch im Winterschlaf. Die Haustür ist verschlossen, doch das Gartentor steht auf, und die wenigen morgendlichen Besucherinnen, die sich hier zwischen Buchsbaum und Taxus begegnen, nicken sich wissend zu. Droste-Freundinnen erkennen sich am Gang. ;)
“Einer der unveränderlichsten Orte” war Rüschhaus für Annette, “wo man den Flug der Zeit am wenigsten gewahr wird”. Das gilt nur noch eingeschränkt. Der Garten hat heute keine Ähnlichkeit mehr mit jenem aus ihrer Zeit. Mit etwas Phantasie aber kann man die Dichterin hier auf und ab gehen sehen: Zwölf Mal am Morgen, zwölf Mal am Abend das Areal durchschreiten, das hat sie sich vorgenommen, um ihr Übergewicht zu bekämpfen und ihrem Homöopathen Bönninghausen Vollzug melden zu können. Die Streifzüge in der Umgebung haben ihr sicher mehr Spaß gemacht, den Hammer stets dabei, um Mineralien aus dem westfälischen Boden zu klopfen.
Haus Rüschhaus von der Gartenseite aus, links ca. 1930, rechts 2015. Der Holzschnitt von W. Schuch aus dem Jahr 1870 lässt es erahnen: Der Garten sah zu Droste-Zeiten ganz anders aus als heute. Es war ein Bauerngarten, keine barocke Anlage.Manchmal schafft Annette die acht Kilometer zwischen Rüschhaus und Münster an einem Tag hin und zurück. Wenn Levin Schücking dienstags von Münster zu ihr heraus wandert, kommt er geschwitzt bei Annette an. Verschollen sei sie im Rüschhaus, schreibt sie einmal. Heute liegt das Haus eingeklemmt zwischen der Autobahn A1 und der Kreisstraße zwischen Nienberge und Gievenbeck, und so sehr man sich auch bemüht, es will einfach nicht gelingen, das Rauschen des Verkehrs ganz auszublenden.
Und doch ist es bis heute ein “lieber, heimlicher Ort” geblieben – ganz besonders jetzt, da die Saison noch nicht begonnen hat. Ich lasse mich eine Weile auf der hölzernen Bank am Rande des Gartens nieder, sehe Annette drüben auf der “Harfe” sitzen, den Treppenstufen am Gartensaal – und meine fast, sie auch zu hören: “Nichts Lieberes als hier – hier – nur hier!”
20 Jahre lang lebt sie in ihrem Schneckenhäuschen im Zwischengeschoss, sie hat hier glückliche Momente und schwere Zeiten. Die Einsamkeit, die sie so liebt, schlägt ihr auch aufs Gemüt; oft ist sie krank, leidet unter dem, was wir heute Depressionen nennen. Ihr Bruder Werner hätte sie gerne öfter bei sich in Hülshoff (auch, damit sie sich um seine Kinderschar kümmern kann). Doch obwohl nur wenige Kilometer zwischen Rüschhaus und der Burg liegen, geht sie den Weg nur wenige Male im Jahr.
Nun soll er zum “interaktiven Lyrikweg” ausgebaut werden, kündigt die Annette-von-Droste-Hülshoff-Stiftung an. Wer darauf nicht warten will: Hier der Weg von Rüschhaus nach Hülshoff in schwindelerregenden vier Minuten.