Das Bahnhofsviertel ist einer der kleinsten Stadtteile Frankfurts: Ein gutes Dutzend Straßen, schachbrettartig gezogen auf kaum mehr als einem halben Quadratkilometer, und doch so laut und lebendig, so vielfältig und verrufen wie kein anderes Quartier. Dass auf diesem überschaubaren Fleckchen die ganze Welt zuhause ist, hört sich an wie ein ausgeleiertes Klischee. Aber mit 180 vertretenen Nationen hält es der Wirklichkeit einigermaßen stand.
Hier gibt es alles. Gemüsehändler stopfen ihre Auslagen voll mit exotischen Lebensmitteln. Restaurants bieten Spezialitäten aus allen Kontinenten. Alims Fisch verkauft sich so gut, dass er nach Bockenheim und ins Ostend expandieren konnte. Es gibt türkische Friseure, Hotels jeder Preisklasse, Werbeagenturen, Striplokale, Künstlerateliers, romantische Dachterrassen, Tanzschuppen, Bars, Fixerstuben, eine Freimaurerloge. Und mittendrin sogar eine Mönchszelle.
Eremitage überm Sündenpfuhl
Vieles wurde in den letzten Jahren getan, um das ramponierte Image des Viertels aufzubessern. Stadt und Land buttern Geld in den Wohnungsbau, Gründerzeitbauten werden luxussaniert, die Mieten steigen, Migranten und Künstler sehen sich zunehmend an den Rand gedrängt. Die Drogenabhängigen haben das schon hinter sich. Die Jahre des “Junkie-Joggings”, bei dem die Süchtigen wieder und wieder verscheucht wurden, um sich dann an anderer Stelle niederzulassen, sind lange vorbei. Heute gibt es Druckräume, Beratung, Hilfe und Unterstützung (und parallel dazu Härte gegen die Dealer). In der Kaiser- und der Münchener Straße stolpert niemand mehr über Menschen, die sich einen Schuss setzen. Das heißt nicht, dass sie nicht mehr da sind. Um das zu sehen, muss man nur mit offenen Augen durch die Mosel-, die Elbe- oder besonders die Niddastraße gehen. Aber weniger, viel weniger sterben. Man kann sich ohne Angst im Bahnhofsviertel bewegen, auch in den “Toleranzzonen”, die nach Mosel, Elbe, Weser benannten Wasserstraßen, wo die Stadt Prostitution erlaubt (in den Laufhäusern, nicht auf der Straße; der offizielle Straßenstrich ist drüben hinter der Messe, in der Theodor-Heuss-Allee).
Und man kann in diesem Rotlichtviertel sogar einen Ort der Ruhe und der inneren Einkehr finden: Die Mönchsklause, von der hier die Rede sein soll, ist in den Turm der Weißfrauen Diakoniekirche in der Gutleutstraße eingebaut.
Der Kurator der Kirche hat mir die Schlüssel zu Turm und Kammer anvertraut: Eine Nacht lang durfte ich ausprobieren, wie sich das anfühlt in einer Eremitage, die über dem lärmenden Kiez schwebt.
Die Bloggerin und #Aufschrei-Aktivistin Nicole von Horst war übrigens die erste, die hier übernachtet hat. So kam es zu diesem kleinen Twitter-Gespräch:
@vonhorst Grüße aus dem Turmzimmer! (Theatertunnel sieht von hier tatsächlich aus wie riesige Zunge.) #meinfrankfurt pic.twitter.com/vgzXAhZ3ps
— Monika Gemmer (@MonikaGemmer) 10. Juni 2014
@MonikaGemmer Oh wie toll! Viel Spaß wünsche ich! Wie ist es denn mit der Wärme drumherum?
— fröken von Horst (@vonhorst) 10. Juni 2014
@vonhorst Hab die Wahl zwischen Lärm und Sauna. Hab mich für den Lärm entschieden. ;)
— Monika Gemmer (@MonikaGemmer) 11. Juni 2014
Auch wenn also an so etwas wie Kontemplation oder wenigstens Schlaf kaum zu denken war: Meine Nacht im Turm möchte ich nicht missen. Jemand schrieb einmal, es seien “die wichtigsten Momente im Leben, wenn wir allein sind.” Schöne Momente waren es in jedem Fall, Momente der (inneren!) Ruhe, der Muße und der Zufriedenheit, und der Raum, der mir das geschenkt hat, ist zu einem besonderen Ort für mich geworden. Immer, wenn ich jetzt durch Gutleutstraße radele, werfe ich einen Blick nach oben. Und muss lächeln.
Für die FR habe ich die Nacht in der Mönchsklause hier geschildert. Bewegte und vertonte Eindrücke aus dem Glockenturm und der Kammer gibt es exklusiv hier: