Im Goethehaus am Frankfurter Hirschgraben ist es mein Lieblingszimmer: der Raum im zweiten Stock, den Cornelia Goethe bis zu ihrem 23. Lebensjahr bewohnte. Bei gutem Wetter zeichnen die Sonnenstrahlen Fensterkreuze auf den Holzfußboden, und die Wände scheinen blau zu leuchten. Das Zimmer liegt abseits, rechts von der Treppe, und irgendwie passt das zu dem Mädchen, das zeitlebens im Schatten des berühmten Bruders bleibt.
Sieben Kinder bekommen Catharina Elisabeth und Johann Caspar Goethe, doch nur zwei von ihnen erleben das Erwachsenenalter: Johann Wolfgang und die 15 Monate jüngere Cornelia, geboren am 7. Dezember 1750. Vielleicht bewegt der frühe Verlust von fünf Kindern die Eltern, Cornelia eine besonders guten Start ins Leben ermöglichen zu wollen, vielleicht es es aber auch Standesdünkel des durch Erbe vermögenden Privatiers Johann Caspar, der dazu führt, dass Cornelia zusammen mit Bruder Wolfgang schon mit knapp drei Jahren in eine hoch angesehene Spielschule geht. Mit fünf wechselt sie aufs Rolandsche Institut, lernt Französisch, Geographie, Zeichnen, verbessert ihr Lesen, Schreiben und Rechnen. Wolfgang muss derweil zuhause die Blattern auskurieren und wird von Privatlehrern und seinem Vater unterrichtet.
Ab dem siebten Lebensjahr nimmt auch Cornelia am Hausunterricht teil, oft zusammen mit dem Bruder. Auf dem Stundenplan stehen Sprachen – Latein, Griechisch, Französisch, Englisch, Italienisch -, Jura, Geographie, Fechten, Reiten, Tanz. Dazu kommt Klavierunterricht, der bei der musikalischen Cornelia auf fruchtbaren Boden fällt. Noch heute ist ihr Zimmer im Goethehaus mit einem Clavichord ausgestattet.
Schwester und Bruder teilen Gemeinsamkeiten und Geheimnisse. Beide interessieren sich für Theater, Musik und Literatur. Heimlich lesen sie den vom Vater verbotenen Klopstock, gemeinsam mit den Eltern besuchen sie das Frankfurter Konzert eines anderen Geschwisterpaares, Anna Maria und Wolfgang Amadeus Mozart.
Mit 14 verliebt sich Cornelia in den zwei Jahre älteren Engländer Arthur Lupton, der in der Nähe ihres Elternhauses wohnt. Unglücklich? Vermutlich. Viel ist nicht darüber bekannt. Luptons reist nach vier Jahren Aufenthalt und Ausbildung in Frankfurt 1768 zurück nach England, ohne sich von Cornelia zu verabschieden. Die vorangegangenen Jahre des Sehnens musste sie allein durchstehen, denn Bruder Wolfgang hat das Elternhaus zum Studieren in Richtung Leipzig verlassen. Das unsichtbare Band zwischen den Geschwistern hält dennoch, viele ausführliche Briefe zeugen davon. Allerdings: Immer öfter schulmeistert Wolfgang seine Schwester. Er stößt sich in Leipzig als junger Studiosus die Hörner ab, während Cornelia in der bedrückende Enge der väterlichen Aufsicht zurückbleibt:
Mein Vater hatte nach meiner Abreise seine ganze didaktische Liebhaberei der Schwester zugewendet, und ihr bei einem völlig geschlossenen, durch den Frieden gesicherten und selbst von Mietleuten geräumten Hause fast alle Mittel abgeschnitten, sich auswärts einigermaßen umzutun und zu erholen.
Cornelia nutzt das gleiche Ventil wie ihr Bruder: Sie schreibt. Einige ihrer schriftstellerischen Arbeiten zeigt sie Wolfgang, der sie in Maßen lobt, aber auch keinen Zweifel daran lässt: Sie müsse noch viel lernen. Und zwar von ihm, dem großen, erfahrenen Bruder.
Ihre Briefe an den Bruder sind verloren, doch aus den seinen lässt sich ablesen, dass sich die Schwester nur ungern von ihm maßregeln lässt. Sie vertraut sich einem Tagebuch an, das sie ausschließlich einer Freundin zeigt. Hier spricht sie offen – über sich, ihr Leben, ihre Wünsche und Träume. Über die Zukunft, die auf sie wartet, das vorgeschriebene Schicksal, die Ehe, das Leben in der Häuslichkeit. Sie macht sich wenig Illusionen. Mit einer gehörigen Portion Selbstironie schreibt sie: Schönheit sei “eine gefährliche Gabe. Ich bin entzückt, sie nicht zu haben, jedenfalls mache ich niemanden unglücklich.”
Nach dem, was schriftlich von ihr erhalten ist, scheint Cornelia nach der Geschichte mit Lupton entschlossen, keine Emotionen mehr zu zeigen. Vielleicht nimmt sie sich vor, sich nie mehr zu verlieben.
Man ist niemals glücklicher, als wenn man ganz gleichgültig ist, man kann alles mit mehr Freiheit beobachten, man ist imstande, Überlegungen anzustellen.
Aber sie spürt auch die Kehrseite: Fehlende Empfindungen hemmen ihren schriftstellerischen Drang.
Die Einförmigkeit, in der ich lebe, die Gleichförmigkeit meines seelischen Daseins, die stumpfe Ruhe meines Herzens, all das geben mir keinen Stoff …
Cornelia Goethe sieht den Lauf ihres weiteren Lebens vor sich – und was sie sieht, gefällt ihr nicht:
Heute ist mein Geburtstag, an dem ich das 18. Lebensjahr vollende. Die Zeit ist verflossen wie ein Traum; und ebenso wird die Zukunft vergehen; mit diesem Unterschied, dass mir mehr Leiden zu erdulden übrig bleiben als ich bisher habe kennenlernen. Ich ahne sie.
1769 taucht der Jurist Johann Georg Schlosser, ein Freund Wolfgangs, bei Familie Goethe auf. Er verliebt sich in Cornelia, wirbt um sie, macht ihr 1772 einen Heiratsantrag – mit Erfolg. Nur einer ist nicht einverstanden: Bruder Wolfgang. Er reagiert mit Eifersucht – und mit Verlustängsten. “Ich sehe einer fatalen Einsamkeit entgegen. Sie wissen, was ich an meiner Schwester hatte”, schreibt er kurz vor Cornelias Hochzeit 1773 und Abreise nach Karlsruhe an Johanna Fahlmer. In Karlruhe bleibt das junge Paar nur ein halbes Jahr, dann bekommt Georg eine Anstellung in Emmendingen bei Freiburg. Als sie dorthin abreisen, ist Cornelia schwanger.
Zu Beginn der Ehe schwärmt Johann Georg Schlosser gegenüber seinem Schwager: “Wenn du je heiratest, mein Bruder, so geb dir Gott eine Frau, die deiner Liebe so wert ist, als meine, die mich täglich mehr an sie fesselt, und nie mit einem Augenwink die Gewalt missbraucht, die ihr mein Herz übergibt”, schreibt Schlosser an seinen Schwager Wolfgang. Aber Cornelia ist unglücklich. In dem Provinzstädtchen Emmendingen gibt es nichts, das sie reizt, das ihren Intellekt anspricht. Sie fühlt sich einsam, und sie kränkelt – sehr zum Verdruss ihres Ehemanns, der seine Frau weder als Schriftstellerin und gebildete Gesprächspartnerin ernst nimmt noch mit ihrer zerbrechlichen Konstitution klarkommt. “Ihr ekelt vor meiner Liebe”, klagt er.
Die Geburt ihrer ersten Tochter 1774 schwächt Cornelia Schlosser so sehr, dass sie fast stirbt. Zwei Jahre später ist sie wieder schwanger. Sie ahnt, dass sie die Geburt diesmal nicht überstehen wird. An eine Freundin schreibt sie im Dezember 1776:
Da schleiche ich denn ziemlich langsam durch die Welt, mit einem Körper der nirgend hin als ins Grab taugt.
Cornelia stirbt bald nach der Geburt der zweiten Tochter am 8. Juni 1777. Bei ihrem Tod ist sie 26 Jahre alt.
So kommt man hin: Das Goethehaus (Öffnungszeiten) ist am Großen Hirschgraben 23-25 in der Innenstadt zu finden, nahe dem Roßmarkt. Nach der Besichtigung kann man gegenüber im Café Karin einkehren – falls es ein freies Plätzchen gibt.
Wieder eine wunderbare und fesselnde kleine Zeitreise. Das kannst du ohnegleichen! Man fühlt sich hineinversetzt, es klingt, als sei alles gestern erst geschehen. Schreibe mal ein Buch!
Danke, Georg!