Durchs Frankfurter Städel des 19. Jahrhunderts laufen

Das Städel Museum von 1878. Bild: Städel Museum

Das Städel Museum von 1878. Bild: Städel Museum

Ich stehe vorm Eingang des Städel Museums am Schaumainkai, und der Boden unter meinen Füßen verschwindet. Der gepflasterte Fußweg, die beidseits auf die Treppen des Portals zuläuft, ist weg. Auch die Skyline auf der anderen Seite des Mains ist nicht mehr da. Das Museum selbst wirkt äußerlich unverändert, Dürer und Holbein stehen an ihrem gewohnten Platz und empfangen die Besucherin des Jahres 1878 als Statuen links und rechts über dem Eingang – ganz so wie heute.

Die VR-Brille drückt ein wenig – das liegt daran, dass ich darunter meine normale Brille trage. Was ich sehe, ist aber so realistisch, dass ich das umgeschnallte Ding auf meinem Kopf schnell vergesse. Ich befinde mich im Jahr 1878, der Museumsneubau am Ufer ist soeben eröffnet worden. Ich trete ein, um mir das Haus so anzuschauen, wie es zur Einweihung aussah, und die Gemäldegalerie jener Zeit exakt so vorzufinden, wie sie damals konzipiert war.

Die Virtual-Reality-App, mit der sich diese “Urhängung” nacherleben lässt, ist des Städels neuester digitaler Streich und Teil eines Projekts, bei dem alle drei Standorte der Städelschen Sammlung so authentisch wie möglich digital nachbaut wurden. Das zugehörige Zeitreise-Webspecial führt in Städels Haus am Frankfurter Roßmarkt (1815), in das erste Städel-Museum in der Neuen Mainzer Straße (1833) und schließlich zum jetzigen Standort am Schaumainkai von 1878, der  (als einziger der drei Schauplätze) zusätzlich auch als virtuelle Realität erlebbar ist – mit besagter Brille auf der Nase, die ich an diesem Herbsttag direkt vor Ort ausprobiere.

Abgetaucht in die virtuelle Realität. Bild: Monika Gemmer

Abgetaucht in die virtuelle Realität. Bild: Monika Gemmer

Angefangen hat alles in Johann Friedrich Städels Haus am Roßmarkt. Der Frankfurter Bankier und Spezereienhändler sammelte über Jahrzehnte hinweg emsig Kunstwerke, er stopfte sein Anwesen so voll damit, dass er selbst in einem Anbau wohnen musste. Goethe hat durchaus ein wenig untertrieben, als nach einem Besuch bei seinem Nachbarn dessen Räumlichkeiten beschrieb:

Mehrere Zimmer sind mit ausgesuchten Gemälden aller Schulen geschmückt, in vielen Schränken sind Handzeichnungen und Kupferstiche aufbewahrt, deren unübersehbare Anzahl, sowie ihr unschätzbarer Werth, den öfters wiederkehrenden Kunstfreund in Erstaunen versetzt.

Der spätere Stifter zeigte seine Schätze gern her: Wer sich anmeldete, bekam, wie Goethe, eine persönliche Führung durch Städels Sammlung. Dicht an dicht hingen die Bilder im Vorderhaus, 476 waren es, als Städel 1816 starb. Anwesen und Sammlung gingen, so hatte er es testamentarisch verfügt, in den Besitz des Städelschen Kunstinstitut über und bildeten den Grundstock für das Städel Museum.

Das Haus am Roßmarkt wurde um 1900 abgerissen. Die Rekonstruktion rund ein Jahrhundert später basiert auf der Arbeit der Kunsthistorikerin Corina Meyer, die vor wenigen Jahren Bauakten, Grundrisszeichnungen, Auftragsbücher und nicht zuletzt das Inventarbuch des Hausherrn auswertete. In diesem „Catalogue des Tableaux“ hatte Städel alle Stücke seiner Sammlung und deren Position in den Räumen akribisch aufgelistet.

Johann Friedrich Städels Haus am Roßmarkt, 1816. Bild: Städel Museum

Johann Friedrich Städels Haus am Roßmarkt, 1816. Bild: Städel Museum

Johann Friedrich Städels Haus am Roßmarkt, 1815. Bild: Städel Museum

Acht Räume waren mit Kunst vollgestopft. Bild: Städel Museum

Virtuell wiederaufgebaut wurde auch das Palais in der Neuen Mainzer Straße 47-51, das das Städelsche Kunstinstitut mit seiner Sammlung im Jahr 1833 aufnahm – damals ein Standort quasi im Grünen, am Rande des Anlagenrings und somit der Stadt, heute mittendrin im täglichen innerstädtischen Verkehrsstau. Auch dieses Gebäude gibt es nicht mehr, doch glücklicherweise hatte die Malerin Mary Ellen Best 1835 mehrere Aquarelle der Räumlichkeiten angefertigt, an denen sich die Rekonstrukteure orientieren konnten. Zu sehen sind auf Bests Bildern auch Skulpuren, die bis ins 20. Jahrhundert hinein zur Städelschen Sammlung gehörten – wenngleich oftmals nur als Gipskopien.

Das erste Städel Museum in der Neuen Mainzer Straße 1833. Bild: Städel Museum

Das erste Städel Museum in der Neuen Mainzer Straße 1833. Bild: Städel Museum

Die Hängung dicht an dicht entspricht der Präsentationsform des 19. Jahrhunderts. Bild: Städel Museum

Die Hängung dicht an dicht entspricht der Präsentationsform des 19. Jahrhunderts. Bild: Städel Museum

Die Büste des Stifters war 1835 zentral platziert. Bild: Städel Museum

Die Büste des Stifters war 1835 zentral platziert. Bild: Städel Museum

Die Dokumente, die Aufschluss über die erste Anordnung der Werke im den Städel-Museen von 1833 und 1878 geben, schlummerten lange Zeit in den Archiven. Das Wissenschaftsteam konnte auf einen Fundus an Grundrissen, Skizzen zur Raumverteilung und Hängepläne, aber auch auf Fotografien aus dem frühen 20. Jahrhundert zurückgreifen.

Zeitreise im Web: Anhand von Hängeplänen konnte die ursprüngliche Anordnung der Gemälde rekonstruiert werden. Bild: Städel Museum

Zeitreise im Web: Anhand von Hängeplänen konnte die ursprüngliche Anordnung der Gemälde rekonstruiert werden. Bild: Städel Museum

Im Städel Museum des Jahres 1878 habe ich inzwischen das Foyer durchschritten. Kein Ticketschalter verstellt den Weg zum Treppenhaus – der Eingangsbereich gewinnt dadurch deutlich. ;)  Die marmorne Treppe mit ihren rötlichen Säulen wirkt vertraut. In den historischen Ausstellungsräumen im Obergeschoss habe ich die Wahl, mich einer der beiden Touren mit Museumsführer anzuschließen oder die Sammlung auf eigene Faust zu erkunden. Links geht es zu den Alten Meistern, zu Rembrandt und Rubens, Raffael und Canaletto, rechts zu den damaligen Zeitgenossen wie Achenbach, Morgenstern oder Carl Friedrich Lessing, nach dessen „Johann Hus zu Konstanz” ein ganzer Saal benannt ist. Ein weiterer Raum heißt nach Philipp Veit. Der ehemalige Städel-Direktor hatte einst ein Fresko auf die Wand des Museums gemalt,  als das noch in der Neuen Mainzer residierte. Vor dem Umzug auf die andere Mainseite war es gelungen, das Werk abzulösen und auf Leinwand zu übertragen, zwei Männer trugen es auf ihren Schultern nach dribbdebach ins neue Domizil. Schön, dass auch Geschichten wie diese zum umfangreichen Begleitmaterial gehören, mit dem das Städel die Zeitreisenden ausstattet.

Das Treppenhaus im Museumsneubau von 1878. Bild: Städel Museum

Das Treppenhaus im Museumsneubau von 1878. Bild: Städel Museum

Nachstiche der Stanzen Raffaels, wie sie 1878 präsentiert wurden- Bild: Städel Museum

Nachstiche der Stanzen Raffaels, wie sie 1878 präsentiert wurden- Bild: Städel Museum

Eine Funktion lerne ich bei meinem virtuellen Museumsbesuch besonders zu schätzen: Einzelne Bilder leuchten auf, wenn ich den Blick darauf richte. Mit einem Fingertipp auf einem Schalter an der rechten Seite der Brille lasse ich sie in einer vergößerten Version von der Wand auf mich zuschweben, darunter öffnet sich ein Textfeld mit Informationen zum Werk. Prima Sache – sowas hätte ich gerne im Städel Museum der Gegenwart, wo der Besucherstrom so häufig den freien Blick stört.

Gemälde, die heute nicht mehr zum Inventar gehören, sich aber noch rekonstruieren lassen, sind in Schwarz-Weiß dargestellt. Wo diese Rekonstruktion nicht gelang, bleiben gerahmte Leerstellen an den Wänden. Nur noch jedes sechste Bild aus der Sammlung Städels gehört heute zum Bestand – der Stifter hatte den Austausch von Gemälden ausdrücklich gestattet, wenn die Sammlung dadurch an Wert gewinnt.

Wende ich den Kopf zur Decke, sehe ich über mir die Oberlichter. Beim Blick nach unten allerdings wird mir dann doch blümerant: Ich finde weder meine Füße noch meine Beine. Sehr merkwürdiges Gefühl. Natürlich laufe ich nicht wirklich durchs Städel. Dies ist nicht Augmented Reality, bei der virtuelle und analoge Realität verschmelzen. Mit dem intransparenten Bildschirm vor Augen sitze ich in einem der Ausstelllungsräume auf einer gepolsterten Bank. Und immer, wenn mir beim Drehen und Wenden des Kopfes einfällt, dass ich etwas sehe, was andere Leute im Raum nicht sehen, komme ich mir ein bisschen dämlich vor.

Als ich die VR-Brille schließlich abnehme, dauert es noch einen kurzen Moment, bis sich das Raum-Zeit-Gefüge wieder stimmig anfühlt. Die Zeitreise ins Städel der Vergangenheit war nicht nur verblüffend real, sie hat mir auch vor Augen geführt, wie anders Kunst im 19. Jahrhundert präsentiert wurde. Was hat es damit auf sich, dass die Bilder “dicht an dicht” gehängt waren, so dass die Wände wie mit Kunst tapeziert wirken?  Von Jochen Sander, dem stellvertretenden Museumsdirektor und Leiter des Forschungsprojekts, lasse ich mir das Prinzip der “Petersburger Hängung” erläutern: Was aus heutiger Sicht anmutet wie eine rein dekorative, von Bildgrößen und -formaten diktierte Anordnung, die jeden Winkel der Wand ausnutzen will, galt bis ins beginnende 20. Jahrhundert als die einzig wahre Form der Präsentation und hatte ein inhaltliches Konzept. Die Gemälde waren an einer gedachten mittleren Raumachse ausgerichtet und hingen in einer vertikalen Raster. So legt sich ein achsensymmetrisches Muster über die Werke, wie Sander erklärt: “Gemälde, die spiegelbildlich positioniert waren, bildeten Pendants und schulten das vergleichende Sehen.“ Im Städel Museum der Gegenwart dagegen hat jedes  Bild einen großzügig bemessenen Platz an der Wand: „Das Einzelwerk wird in seiner besonderen Wirkung betont, und die Hauptwerke werden deutlich.“ Gleichwohl sei vergleichende Betrachtung, das betont Sander, auch heute ein grundlegendes Prinzip der Kunstvermittlung.

Man muss nicht gleich eine VR-Brille kaufen (zumal die App nur auf Android-Smartphones und der Brille desselben Herstellers laufen). Demnächst werden einige Geräte vor Ort im Städel für Besucher bereitliegen. Gut zu wissen – auch für den Fall, dass es wieder mal rappelvoll ist.