Mitten in Deutschland

Vor mir beim Optiker: Ein Ehepaar, er in luftigem weißen Gewand, Kopfbedeckung und Bart, sie in schwarzer Burka, nur ein Sehschlitz frei. Er lässt sich von der Verkäuferin über Kontaktlinsen beraten. Nach wenigen Minuten wird klar: Es geht gar nicht um ihn, es geht um seine Frau, um deren Augen, um deren Kontaktlinsen. Er spricht für sie. Auch die Verkäuferin weiß das jetzt. Aber sie redet weiterhin ausschließlich mit dem Mann. Sie schaut die Frau nicht einmal an. Zwischendurch macht die Frau hinter dem schwarzen Tuch Bemerkungen, aus denen selbst ich in einigen Metern Entfernung heraushöre, dass sie gut deutsch versteht und spricht. Doch auch das veranlasst die Verkäuferin nicht, sich ihr zuzuwenden – der Person, um deren Belange es schließlich geht.

Eine alltägliche Szene, mitten in Deutschland. Ja, sicher: Auch mancher Mann deutscher Herkunft degradiert seine Frau zur Randfigur, macht sich zum Sprecher in ihrem Namen. Es ist leicht, diese Rollenverteilung zu unterlaufen: Schneidet er ihr das Wort ab, dann wende ich mich beim Antworten grundsätzlich und demonstrativ ihr zu. Männer reagieren oft erstmal irritiert, überlassen dann aber meist ihren Frauen das Gespräch.

Wie aber würde ein Mann reagieren, der seine Dominanz nicht in Frage stellen lässt, schon gar nicht von einer Frau, einer Verkäuferin? Der mitten in einer deutschen Stadt ganz öffentlich demonstriert, dass er die weibliche Hälfte der Menschheit für minderwertig hält, indem er seine Ehefrau bewusst in eine brutale, weithin auffällige Kleiderordnung zwingt? Der sie mit einer großen Selbstverständlichkeit unmündig macht, ihre Kommunikation verstümmelt, sie behandelt, als sei sie nicht geschäftsfähig? Wie hätte er reagiert, wenn die Verkäuferin sich der Frau zugewendet hätte?

Müssen wir uns diese Frage überhaupt stellen? Wie eingeschüchtert sind wir eigentlich bereits?

In Deutschland gelten Frauen und Männer als gleichberechtigt. Niemand vertritt hierzulande ernsthaft noch überholte Rollenklischees (vielleicht abgesehen von älteren Herren und ehemaligen Tagesschau-Sprecherinnen, die das Schlechte an der weiblichen Karriere erst entdecken, nachdem sie selbst eine gemacht haben)

Die Frauenrechtlerin Seyran Ates hat im vorigen Monat ihren Beruf als Anwältin aufgegeben – aus Angst. Sie hat nichts anderes getan, als auch den Musliminnen in Deutschland zu dem gleichen Recht zu verhelfen, das für deutsche Frauen selbstverständlich ist. Dass sie dafür bedroht und tätlich angegriffen wird – mitten in Deutschland – ist zutiefst beunruhigend, ebenso wie das, was in einem türkischen Forum dazu zu lesen ist: Wenn irgendeine dahergelaufene Kuh meint einen auf feministische Pädagogin zu machen und meine eigene Frau gegen mich aufhetzt, dann kann sie aber sicher sein, daß ich ihr auch an die Gurgel springe.

Manchmal würden schon ein Blick, eine Geste, ein paar Worte genügen, um einer Frau zu signalisieren, dass man sie nicht allein lässt hinter ihrem Schleier – und den Männern, dass die Toleranz für ihre Lebensart dort aufhört, wo sie geltende Grundrechte mit Füßen treten.

6 Kommentare

  1. Da werden keine Blicke genügen, wenn die Macht beim Mann, also beim Islam liegt.
    Aber diese Religion “anzugreifen”, d.h. zu handeln, wie es notwendig ist, dies wäre “politically incorrect”, n’es pas?
    Sonntagsreden über solidarische Blicke dienen nur der Beruhigung des, zu recht schlechten Gewissens.
    Nenne das Wurzel des Übels beim Namen und handle mutig gegen das Böse.

  2. Auch wenn ich mich jetzt etwas weit aus dem Fenster lehne, ich glaube nicht, dass Mo ihren Artikel gegen den Islam geschrieben hat. Auch wenn bei mir selbst langsam eine Toleranzgrenze erreicht ist, so bin ich und auch ganz bestimmt Mo in der Lage zu differenzieren.
    “d.h. zu handeln, wie es notwendig ist… Nenne das Wurzel des Übels beim Namen und handle mutig gegen das Böse.” Solche Sätze, lieber Wilhelm, spare dir bitte, denn das ist faschistisches Gedankengut par Excellenze. Auch der Islam ist reformfähig. Dazu braucht es nur etwas Geduld und Vertrauen.
    Ich würde einfach meinen, jede Handlung, die gegen das Grundgesetz (oder die Menschenrechte) verstößt, ist (auch öffentlich) anzuklagen. Aber niemals eine Bevölkerungsgruppe, eine Religion, eine Rasse, ein Geschlecht oder eine Hautfarbe. Wir müssen ALLE lernen, miteinander umzugehen, da wir alle auf dieser Erde leben. Und der Macho hat zu lernen, so wie seine verhüllte Frau auch lernen wird.
    Ich verstehe Mo’s Beitrag als Aufruf und Anfang dazu; auch als deutliche Ablehnung frauenfeindlicher Gewohnheiten und daher als Anstoß dies zu ändern – ohne Menschen per se ablehnend zu pauschalisieren.
    Zumindest so habe ich den Beitrag verstanden.

  3. Weitgehend d’accord, Georg. Aber eine Ergänzung bzw. Präzisierung: Muslime haben auf Frauenfeindlichkeit gewiss nicht das Copyright, aber die Beobachtung, dass sie im Alltag (!) von Angehörigen des Islam häufiger und brutaler in Erscheinung tritt, ist ja nicht von der Hand zu weisen. Dafür muss man nur Kelec oder Ates lesen. Es muss möglich sein, Ausprägungen einer Religion zu kritisieren, ohne in den Verdacht zu geraten, eine Religion per se zu diskreditieren.

    Mein Großvater väterlicherseits war ein Patriarch, wie er im Buche steht. Er hat seine Frau klein gehalten, ihr Selbstbewusstsein minimiert, ihr Informationen vorenthalten, so dass sie nach seinem Tod hilflos vor all dem Papierkram stand. Vermutlich ging es den meisten Frauen dieser Generation nicht anders. Doch ein Mann, der es heutzutage für normal hält, dass Frauen keine Stimme haben, dass sie minderwertig sind, dass sie eingesperrt werden müssen, dass ihre Aussagen vor Gericht weniger wert sind wie die von Männern, ist für mich noch weniger erträglich als das Machogehabe meines Großvaters. Die Massivität der Unterdrückung ist eine andere. Für mich macht es schon einen Unterschied: Hierzulande wird über frauenfeindliche Ideologien und Zustände wenigstens leidenschaftlich diskutiert und gestritten* – anderswo wird nicht geredet, sondern gleich gesteinigt.

    Und ganz ehrlich: Meine Toleranzgrenze wurde da schon oft überschritten. Es mag daran liegen, dass ich viel in einer Stadt mit sehr hohem Ausländeranteil unterwegs bin; entsprechend oft muss ich verschleierte Frauen sehen, die Meter hinter ihren Männern hergehen, die nicht für sich selbst sprechen dürfen… nicht in einem islamischen Land, sondern in Deutschland, nicht im Jahr 1910, sondern im Jahr 2006. Auf die Gefahr hin, dass nun ich mich weit aus dem Fenster lehne: Dem Mann beim Optiker, der sich nicht um unsere Grundrechte schert, gehört das Aufenthaltsrecht entzogen. Ihm wohlgemerkt – nicht ihr.

    (*Schlimm genug übrigens, dass das schon wieder nötig ist.)

  4. Da stimme ich dir völlig zu. Auch meine Toleranzgrenze ist, was den Islam und einiger seiner Vertreter in Deutschland betrifft, eindeutig überschritten. Meine Mutter wurde noch ihr halbes Leben “dumm gehalten”. Also diese Tendenzen (beherrschen wollen, Macht ausüben usw.) gab es auch hier, wie du ja auch schriebst und sind wohl männlichen Ursprungs überall auf der Welt.
    Deshalb sollte aber niemand eine Weltreligion als Ganzes dafür verantwortlich machen, wie es z.B. bei “PI” ständig und unerträglich gemacht wird. Wenn man einmal zurückschaut, ist es doch erstaunlich, wie unser Leben sich alleine in den letzten ein/zwei Generationen verändert hat. Weshalb geben wir Anderen nicht die selbe Chance für ihre Entwicklung?
    Dazu gehören aber eindeutigen Sanktionen, denn ohne lernt keiner. Und also würde ich ebenfalls DEN MANN das Aufenthaltsrecht aberkennen, da ER sich nicht ans GG hält. Sind wir absolut einer Meinung.

  5. Hm, ja. Der Haken ist nur: Wenn ich mich so umschaue, sehe ich weit und breit keine Fortschritte innerhalb des Islam, von punktuellen Ausnahmen vielleicht abgesehen, sondern fast überall Rückschritte, in islamischen Ländern ebenso wie bei Moslems in nicht-islamischen Ländern wie Deutschland. Das macht es etwas schwer, an eine positive Entwicklung zu glauben…

  6. Das eigene Sehen ist immer subjektiv, bzw. wenn das Augenmerk der Medien auf etwas bestimmtes gerichtet ist, empfindet jeder es plötzlich als sein eigenes Augenmerk.
    Die religiöse Entwicklung außerhalb Deutschlands und in Deutschland sollte man doch unterschiedlich bewerten, meine ich, denn Deutschland ist sicher nicht z.B. mit Algerien vergleichbar.
    Aber ganz abgesehen davon: welche Alternative bleibt (dir) denn? Krieg gegen alle islamischen Länder? Einreise- und Einbürgerungsverbot Menschen islamischen Glaubens?
    Um eine gegebene Welt zu ändern, braucht es Geduld. Gandhi hat es uns doch beigebracht, wieso sind wir heute so ungeduldig geworden?
    Vielleicht müssen wir auch mal erkennen, dass der Grund für den Hass auf den Westen, in unserer Arroganz, wie wir mit dem Rest der Menschheit umgehen zu finden ist. Niemand kann verlangen, dass NUR der Andere sich zu ändern habe – wenn wir ein GEMEINSAMES Leben wollen, müssen wir alle aufeinander zugehen. Das ist schwer und dauert lange.

    “Das macht es etwas schwer, an eine positive Entwicklung zu glauben…” Genau. Es bleibt schwer daran zu glauben. Wer sagt denn, dass es einfach sei?

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