Mein Herbergsvater sollte Recht behalten. “Schöne Strecke, fahre ich im Winter öfter”, schwärmt er, nachdem ich ihm von meiner heute geplanten Tour erzählt habe: “Freuen Sie sich drauf!” Das tu ich, und wie. Die Fähre zur Halbinsel Priwall bringt mein Rad und mich auf die andere Seite der Travemündung. Drüben nehme ich eine kleine Straße direkt am Wasser entlang, vorbei an der Viermastbark Passat und am Yachthafen, wo ein paar Frühaufsteher ihre Segelboote klar machen für einen Tag auf dem Wasser. Die Sonne scheint, der Wind rüttelt schon an den Masten – bestes Segelwetter, schätze ich.
Nach kurzer Zeit überquere ich die Landesgrenze und bin in Mecklenburg-Vorpommern. Vor mehr als 20 Jahren noch hörte die Welt hier auf – für die Lübecker, die zum Baden auf den Priwall gingen, ebenso wie für die Pötenitzer auf der anderen Seite.
An einem Gedenkstein, der die ehemalige deutsch-deutsche Grenze markiert, mache ich kurz Halt. Ich stochere eine Weile vergeblich im Gras nach einem Geocache, dann radele ich noch ein kurzes Stück an der Straße entlang und biege schließlich links ab auf einen asphaltierten Feldweg. Jetzt liegt er vor mir, der Ostseeradweg, und er präsentiert sich wie aus dem Bilderbuch: Links das Meer, rechts Rapsfelder so weit das Auge reicht, über mir strahlend blauer Himmel, und vor mir rund 55 Kilometer bis zum Tagesziel, immer an der Küste entlang.
Ich kann das Rad fast rollen lassen, Windböen wehen mich vor sich her und sorgen zudem für eine krachende Brandung, die den ganzen Tag lang meine Begleitmusik sein wird. Alle paar hundert Meter zweigen Zugänge zum Strand ab – anfangs stoppe ich jedes Mal, weil ich mich nicht sattsehen kann an den spektakulären Ausblicken auf die Lübecker Bucht genießen. Wenn das so weitergeht, werde ich Wismar nie erreichen …
Irgendwann kommt sie dann doch, die erste Steigung. “Anfangs etwas hügelig”, hat mein Radreiseführer mich vorsichtig gewarnt – pah! “Ständisch eruff un erunner” würde ich das nennen. Immerhin: Das “erunner” macht Spaß und bringt Tempo. Trotzdem bin ich nach 20 Kilometern etwas mürbe, zumal ich mit dem Gepäck nicht jede Steigung fahrend schaffe. Da hilft dann nicht mal der Rückenwind.
Aber ich lasse mich schnell wieder von der wunderschöne Landschaft besänftigen. Immerhin darf ich die meiste Zeit auf glattem Asphalt fahren. Meine Sorge, dass ein Teil des Radwegs auf alten Kolonnenwegen verlaufen könnte, erweist sich (bisher) als unbegründet; nur an einer Stelle lugen zwei von Grün durchwucherte Fahrbahnen aus dem Boden, und dies auch nur zu Demonstrationszwecken: Überreste der DDR-Grenzsicherung, auf denen die Kontrollposten zu den Beobachtungspunkten fuhren.
Die Vergangenheit bringt sich auch an einer anderen Stelle in Erinnerung: Schon von weitem sehe ich ein hohes, schlankes Kreuz aus Birkenstämmen in den Dünen; beim Näherkommen erweist es sich als Markierung für ein Massengrab. 1945 wurden überall an den Küsten der Lübecker Bucht Leichen angeschwemmt – Todesopfer des Untergangs zweier Flüchtlingsschiffe, der Cap Arkona und der Thielbek Hier, im Sand unter dem schlichten Kreuz, hat man viele von ihnen begraben.
Nach gut 30 Kilometern auf einsamen Wegen schallt mir in Boltenhagen Musik entgegen: Das Ostseebad feiert gerade die Eröffnung der 209. (jawoll!) Badesaison, mit öffentlichem Yoga und Wellness im Kurpark, Imbissbuden, Touristenbespaßung und – einem Shanty-Chor, an dem jeder vorbei muss, der auf die Seebrücke will. Also auch ich. (Dies sollte die Einleitung zu einer Hörprobe sein, aber das Wlan ist so wacklig, dass ich euch diesen Genuss vorläufig vorenthalten muss…)
Lange hält es mich nicht in dem Trubel. Schnell noch in der Tourist-Info aufs Klo (in solchen Einrichtungen gibt es meist eine öffentliche Toilette in annehmbarem Zustand!), dann nehme ich die zweite Hälfte der heutigen Strecke unter die Räder. Die übrigens schon ein wenig mitgenommen wirken: Das Vorderrad achtert schon wieder ein wenig. Hoffentlich hält alles durch.
Nach 40 Kilometern meldet sich dann doch noch der Hintern. Das ist schlecht, denn ich muss noch knapp 20 Kilometer darauf sitzen. Ich lenke mich ab, indem ich mir immer wieder sage, dass der Liegeradfahrer, der mir vorhin entgegenkam, noch schlimmer dran ist – der guckt immerzu nur auf die Rapsstengel am Wegesrand, während ich von meiner hohen Warte aus stets das tiefblaue Meer am Horizont erblicke.
Und dann erreiche ich Wismar. Gerade rechtzeitig, bevor ein paar Tropfen vom Himmel fallen. Doch das ist schnell wieder vorbei, so dass ich einen langen Bummel durch die Unesco-geschützte Altstadt zum Alten Hafen machen kann. Meine Adresse hier ist die gleiche wie daheim in Frankfurt: Dahlmannstraße. Fühle mich fast zuhause.
Gefahrene Kilometer: 57
[sgpx gpx=”/wp-content/geo/ostseeroute-tag-1.gpx”]
Schööön :-)