Selber schuld

Als die Kinder Kröten nach Hause brachten und im Zirkus nicht mehr lachten, als sie ihr Brot nicht mehr aßen und stattdessen die Kröten fraßen, als sie Teddybären zerrissen und in Autoreifen bissen, als schließlich Kindergärten brannten und Lehrer um ihr Leben rannten, da wussten wir, es ist aus.

Jemand, nein etwas muss schuld sein an dieser gottverdammten Pleite. Das Internet, das böse. Es verdirbt uns unsere Kinder. Es macht blauäugige kleine Engel zu Monstern. Chats, WLAN-Parties, was ist das alles überhaupt, wir sind auch ohne all das groß geworden, und wenn es auch vieles gab zu unserer Zeit, virtuell getötet wurde jedenfalls nicht. Experten im Studio erklären uns, wie wir unsere Kinder vor diesem Interdings schützen können, als ob es sich eine ansteckende Krankheit handelte. Wir ziehen skeptisch die Augenbrauen hoch, wenn sie solche merkwürdigen Dinge tun wie bloggen oder chatten, aber wir haben nichts dagegen, wenn sie stattdessen stundenlang RTL gucken.

Es ist aus. Zu spät. Selbst wenn wir den Knopf drücken. Die Sache ist nämlich die: Wir haben unsere Kinder nicht an irgendein Paralleluniversum verloren – sie haben uns verloren. Wir bemerken unsere Kinder nicht mehr. Wir bemerken sie nicht, wenn wir bei Rot über die Straße gehen, obwohl sie uns dabei zusehen; wir bemerken sie nicht, wenn sie in der Nachbarwohnung um Hilfe rufen; wir sehen ihre Schrammen nicht, die äußerlichen und die inneren, und wenn, dann fragen wir nicht. Wir bemerken sie nicht einmal mehr, wenn sie direkt neben uns sitzen, während wir uns Enthauptungs-Videos in den Fernseh-Nachrichten anschauen. Wir lassen sie ungebremst gegen Wände laufen. Wir lassen sie allein.

Unsere Kleinen da draußen verbrennen die Erde, es kochen die Flüsse, es verdampfen die Meere, oben am Himmel der kleine Bär schläft auch nicht mehr. Ja, unsere Kleinen, unsere Kleinen haben uns den Krieg erklärt, haben Dir, Mutter, mir, Vater, den Krieg erklärt, weil im Raum Waldburg, an der Grenze, hat dieser gottverdammte Panzer den Osterhasen überrollt.
Ludwig Hirsch, Die gottverdammte Pleite, 1979

6 Kommentare

  1. und jeden Sonntag, dem Tag des Herrn, um 20:15, wird für die Älteren unter uns eine Leiche der Unterhaltung geopfert.

  2. Schuld können immer nur Mensch haben, Dinge sind nur Grund oder Auslöser, man müsse bei der deutschen Sprache genau sein, hörte ich vor kurzem. Wenn sich da nur mal alle einig wären. Denn Sündenböcke lassen sich bei Dingen doch viel einfacher suchen, die wehren sich nicht. Und es ist alles viel einfacher als zu sagen: Selber schuld.

  3. Grossartig, die Kraft Deiner Sprache! Der Beitrag lebt in Inhalt und Form und rüttelt auf. Derweil Papa auf dem Sofa sitzt (mit Bestimtheit) und fern guckt. “Irgend was Lustiges”, will sagen Dröges, Bescheuertes. “Wir pöbeln auf jeden Fall nicht rum”, mault er nur schon auf ein Stirnrunzeln hin – und dann ist er eingeschlafen. Der Besuch aus Frankreich, der deutschen Sprache nicht mächtig, registrierts. Der Fernsehern läuft weiter. Und die Kinder machen, was sie wollen.

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