Phantomschmerz

Am dritten Tag erreichten wir unser Ziel – und das war höchste Zeit. Auf der El Colono, einem alterschwachen Kahn der chilenischen Schifffahrtsgesellschaft Transmarchilay, herrschten zu diesem Zeitpunkt bedenkliche hygienische Zustände: 200 Passagiere, ein gutes Dutzend Toiletten – und das Klopapier war bereits am zweiten Tag ausgegangen. Manchmal muss man Opfer bringen. Wir wollten ihn unbedingt sehen, den Nationalpark Laguna San Rafael, eine der berühmten Sehenswürdigkeiten auf halbem Wege von Patagonien nach Feuerland.

Treibende Eisberge kündeten seit dem Morgen davon, dass der Gletscher San Valentín nah war. Als er gegen Mittag in Sichtweite kam, stimmten unsere chilenischen Mitreisenden an Deck wie selbstverständlich die Nationalhymne an. Ein Freund aus Santiago, der unsere peinlich berührten Blicke sah, versuchte, uns das Nationalgefühl der Chilenen zu erklären: Es sei der Stolz eines Volkes, das die Diktatur aus eigener Kraft abgeschüttelt habe.

Über die Zeit des Militärregimes mochte er nicht reden. Und auch die anderen, die wir vorsichtig fragten, winkten ab. Pinochet, das war Vergangenheit. Chile blickt nach vorne, hieß es, und alle naslang: Es lebe Chile! Das war 1999, das Ende der Diktatur war gerade mal zehn Jahre alt. Straßen wurden nach Salvador Allende benannt, aber Pinochet war es, dessen Schatten sich einfach nicht verscheuchen ließ. Und so scheint es geblieben zu sein. Erst der Tod des Ex-Diktators hat viele Chilenen wieder schmerzhaft spüren lassen, dass er mitten unter ihnen gelebt hat. Ein Blick in chilenische Weblogs.