Die letzte Reise

Die Venezianer wussten ihre glückliche Geografie zu nutzen: Alles, was ihnen nicht geheuer war oder gar gefährlich werden konnte, wurde aus der Stadt und auf einen der vielen schwimmenden Vorposten verbannt. Die Kranken bekamen ihre Insel, die Irren eine andere, die herrenlosen Hunde eine dritte. Und die Toten bekamen San Michele.

Seit 1807 treten verstorbene Venezianer ihre letzte Reise in einer sargtragenden Gondel an. Noch einmal werden sie durch die Lagune geschaukelt, bis sie in San Michele an Land und unter die Erde gebracht oder, nach der Kremierung, in eines der Fächer in den kalkweißen Wänden eingelassen werden. Platz für alle ist hier schon lange nicht mehr, eine Erdbestattung entsprechend teuer, und bereits nach zehn Jahren, so hören wir, würde ein Erdgrab eingeebnet.

Die Urnenmauern muten ein wenig an wie Regale. Und wie in Bibliotheken stehen auch hier überall Schiebeleitern bereit, damit die Angehörigen auch an die oberen Fächer gelangen und die am Mauerwerk verschraubten Vasen mit neuen (meist künstlichen) Blumen bestücken oder mit einem Lappen das gerahmte Foto der Verstorbenen polieren können.

Die Fotos sind es, die uns länger als geplant hier festhalten. Nicht nur ein Name, zwei Daten und ein Bibelspruch zeugen hier von den Toten — immer ist auch ein Bild dabei, an den Urnenfächern ebenso wie an den Grabstellen. Hunderte, Tausende Gesichter — wir verbringen Stunden damit, in ihnen zu lesen. Wir sehen in wache Augen, in hoffnungsvolle und in resignierte Gesichter. Wir sehen harte Züge, Strenge, Selbstdisziplin und noch öfter verschmitzt lächelnde Menschen; alte Gesichter, in denen sich ein bis zur Neige ausgetrunkenes Leben spiegelt, und junge, wie das der Tänzerin, die keine 20 wurde. Auf ihrer Grabstelle liegt, neben ihrem Foto, auch ein Paar Ballettschuhe. Ein anderes Bild zeigt einen Mann im Rentenalter, der offenbar gerne unterwegs war: Für sein Grab wählten die Angehörigen ein Foto, das ihn mit zwei Koffern in den Händen zeigt.
Es sind die Bilder, die diesen Ort der Toten lebendig machen. Es ist, als würden die Bewohner von San Michele ihren Besuch persönlich empfangen. Sie umringen uns, während wir über den Friedhof gehen, sie beobachten uns, sie gewähren uns ein paar Stunden ihrer Anwesenheit. Sie erlauben uns großzügig, uns in ihr einstiges Leben hineinzuversetzen. Und sie verabschieden uns, als wir das Boot besteigen, das uns zurück bringt in den Trubel einer anderen Welt.