Auf dem Pathorn

Mehr als zwölf Jahre lang war der Turm des Frankfurter Bartholomäusdoms nicht öffentlich zugänglich: Wegen Steinschlaggefahr geschlossen. Im letzten Sommer endlich verschwand das Gerüst an der Fassade, und ein wunderschönes Bauwerk kam zum Vorschein, jetzt auch bis fast zur Turmspitze für Besucher offen.

Der Frankfurter Dom ist strenggenommen gar kein Dom, es gibt keinen Bischof, aber die Frankfurter nennen ihre Bartholomäuskirche seit dem 19. Jahrhundert trotzdem so. Und zum Pfarrturm sagen sie Pathorn, ganz so, wie ihn schon Friedrich Stoltze bedichtete, der in seinem Schatten aufgewachsen war:

Im Pathorn war ich wie dehääm,
Ganz in der Näh war’s freilich,
Un aus meim goldne Kinnerträäm
Da ragt err hoch un heilig.

Gebaut worden ist der Turm zwischen 1415 und 1514. Dann hörte man auf – obwohl er nicht ganz fertig war. Handwerker halt. ;) Aber so ein Dombau ist ja eigentlich nie wirklich vollendet, bis in unsere Zeit.

Wer heute auf den Turm klettert und von oben auf Frankfurt herabschaut, auf diese anrührende Mischung aus Wolkenkratzer-Kulisse und mittelalterlich wirkender Puppenstube, der steht sozusagen im Mittelpunkt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Über Jahrhunderte hinweg schaut die Alte Welt auf den Frankfurter Dom, denn hier werden zwischen 1562 und 1792 zehn Kaiser gekürt und gekrönt – nicht mehr im Petersdom zu Rom, nicht mehr in der Pfalzkapelle zu Aachen, sondern hier, im klaane Frankfort am Maa. Dann ist Pomp und Pracht im Städtchen, von überall her kommen die Gäste, die Herbergen platzen aus allen Nähten, die Kurfürsten versammeln sich in der Wahlkapelle im Dom, auf dem Römerberg wartet das Volk auf den neuen Kaiser. Ist der gewählt und gekrönt, dann wird gefeiert, aus dem Brunnen vor dem Römer fließt Wein statt Wasser, und ganze Stiere drehen sich am Spieß überm Feuer auf dem Römerberg, da drüben, genau an der Stelle, wo heute japanische Touristen grüppchenweise Halt machen, um das alte Rathaus zu fotografieren und die nachgebaute Fachwerkkulisse auf der anderen Seite des Platzes.

Oben, auf dem Turm, hat man den Logenplatz über Frankfurts Gut Stubb. Nach 328 Stufen liegt einem die Stadt zu Füßen: Der Römerberg mit dem aus drei Häusern bestehenden Rathaus Römer, die Nikolaikirche, das Rund der Kunsthalle Schirn, der Main mit dem Eisernem Steg und der an den Fluss gelehnten Kirche St. Leonhard, die geschichtsträchtige Paulskirche. Die alten Bauten und Plätze, der alte Stein scheint wie im Schoß der Bankenhochhäuser zu ruhen, und von hier oben kann man trefflich darüber philosophieren, was wohl länger Bestand haben wird.

Schräg unten, am Gasthaus Paulaner, wo jetzt Häuser aus den 60er Jahren stehen, war mal der Garküchenplatz. Hier bricht in einer Sommernacht des Jahres 1867 ein Feuer aus. Funken springen auf den Dom über, setzen Vogelnester und Schneebretter in Brand, und in Nullkommanichts steht der ganze Dachstuhl in Flammen. Die Frankfurter sind am Boden zerstört, nicht wenige sehen in dem Unglück ein Zeichen – denn zur selben Zeit wird ihre Stadt dem ungeliebten Preußen einverleibt und zur Provinzstadt degradiert. In Frankfurt geht damals ein geflügeltes Wort um:

Der Pathorn hat kaa Spitz und der Senat kaa Schneid.

Zehn Jahre dauert der Wiederaufbau des Turms. Die preußische Herrschaft dauert ein wenig länger.

Von hier oben bekommt man auch ein Gefühl für die Brachialgewalt, mit der die Frankfurter Altstadt zerschlagen und zerteilt wurde – im Bombenhagel 1944 vor allem, aber auch durch Straßendurchbrüche in den Jahrzehnten zuvor. Und mittendrin, wie eine Wunde, der gigantisch wirkende weiße Grundriss des wohl umstrittensten Bauwerks, des Technischen Rathauses. Stein um Stein wird es jetzt abgetragen, an seiner Stelle soll ein Teil der Altstadt rekonstruiert werden, inklusive Wiederaufbau einiger historisch bedeutsamer Häuser, darunter Stoltzes Elternhaus. Auch wenn viele Frankfurter dem Technischen Rathaus keine Träne nachweinen, so herrscht bei manchen doch auch die Sorge, dass sie stattdessen eine Art Fachwerk-Disneyland bekommen. Nun – wir werden das von hier oben ganz genau im Auge behalten.

Lust auf den Aufstieg auf die Turmspitze? Bitte sehr – in Bild und Ton:



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