Zum Glück war ich im vergangenen Jahr auf mehreren Hochzeiten – so fand sich im Schrank schnell ein passendes Outfit, als die überraschende Einladung zur Grimmepreis-Verleihung im Briefkasten lag. Auch die weiteren Hürden (in Marl war kein Hotelzimmer mehr zu bekommen, und drei Tage vor der Fahrt ging auch noch das Auto kaputt) wurden letztlich souverän genommen. Und so sind wir pünktlich an einem Freitagabend zur Stelle, um der Verleihung des renommiertesten Fernsehpreises beizuwohnen.
Im Foyer des Theaters erwerben wir ein Getränk, mischen uns unter die Gästeschar und tun ganz abgeklärt, während wir unauffällig aus den Augenwinkeln die Prominenz um uns herum zu identifizieren versuchen. Da! Das ist doch die … na, die Schauspielerin, die die Dings gespielt hat. Und da drüben steht der … wie heißt der noch. Ach, ich komm nicht drauf. Aber hier, den kenn ich, das ist der Typ aus der Heuteshow!
Die Menge teilt sich, als Anna Maria Mühe im weißen Kleid durchs gerammelt volle Foyer schwebt. Nachher wird sie auf der Bühne stehen, denn der Dreiteiler “NSU – Mitten in Deutschland”, in dem sie Beate Zschäpe verkörpert, wird ebenfalls ausgezeichnet – in der der Kategorie Fiktion. Die rechtsterroristischen Morde und das Versagen der Ermittler sind leider bittere Realität.
Das Theater Marl, in dem wir uns befinden, ist ein, äh, interessantes Stück Architektur. Wie überhaupt die ganze Stadt. Marl im Kreis Recklinghausen mit seinen ungefähr 85.000 Einwohnern ist vor allem bekannt für zwei Dinge: den Chemiepark, dessen Existenz sich bemerkbar macht, sobald man in Marl einmal tief Luft holt. Und das Grimme-Institut, das seinen Sitz hier nahm, als seine Gründung 1973 vom damaligen Leiter des Marler Bildungswerkes “Die Insel”, Bert Donnepp, initiiert worden war. Den nach Adolf Grimme benannten und vom Deutschen Volkshochschulverband gestifteten Preis für Fernsehqualität hat es schon vorher gegeben, er wird seit 1964 verliehen.
Vor der 53. Verleihung stehen wir mit unseren Gläsern in der Hand drinnen am Fenster und schauen zu, die draußen die Promis vorfahren. Auf der Zufahrt hat sich ein Stau aus schwarzen Vans gebildet. Eine Wagen nach dem anderen hält neben dem Roten Teppich, die Türen öffnen sich, Menschen in Abendkleidern und Sakkos steigen aus, richten noch einmal die Garderobe und stellen sich dann in der nächsten Schlange an.
Es scheint ein Gesetz der Showbranche zu sein, dass man sich selbige auf dem Roten Teppich nicht stiehlt: Jede/r bekommt hier seinen Auftritt, während die anderen brav warten, bis sie an der Reihe sind. Man kann ja am Rande schon mal Autogramme geben, wie Annegret Kramp-Karrenbauer, die Wahlsiegerin aus dem Saarland, das gerade eifrig tut.
Sie ist in Begleitung von Rita Süßmuth. Die CDU-Veteranin war fast 30 Jahre lang Präsidentin des Grimmepreis-stiftenden Deutschen Volkshochschulverbandes. Auf unzähligen Verleihungen hat sie den Ehrenpreis übergeben und den Staffelstab inzwischen an ihre Parteifreundin aus dem Saarland weitergereicht.
Jan Böhmermann nimmt eine Abkürzung Richtung Eingang. Der Mann ist hier ja quasi zuhause. Später auf der Bühne formuliert er sein Dauerabonnement auf die Auszeichnung selbstironisch so: “Man bekommt ja nicht jedes Jahr einen Grimmepreis.” Dabei ist er nicht mal der Rekordhalter. Dominik Graf hat inzwischen mehr als ein Dutzend Grimmepreise im Schrank (oder wo auch immer) stehen. Vielleicht sollte das Grimme-Institut eine “Drei Mal dabei, bitte nicht wiederwählen”-Regelung in Erwägung ziehen, damit mal andere an die Reihe kommen.
Spätestens 19:15 Uhr sollen wir auf unseren Plätzen sitzen, wegen der Fernsehaufzeichnung. Wir sind oben im Rang untergekommen, mit bestem Blick auf die rund 650 Gäste im Saal. Bevor es losgeht, dürfen die Fotografen schnell noch ein paar Bilder im Zuschauerraum machen. Im Zentrum des Blitzlichtgewitters: Senta Berger und, na klar, Jan Böhmermann.
Moderator Jörg Thadeusz brieft noch einmal das Publikum (die Preisträger mit warmem Applaus auf die Bühne begleiten, bitte), dann geht es los.
“Wir haben heute alle hier”, beginnt Thadeusz mit Blick auf die vierte oder fünfte Reihe, wo Böhmermann sitzt. “Es musste niemand zuhause bleiben, weil ein türkischer Staatspräsident böse auf ihn ist.” Das Publikum lacht, aber nur ein bisschen, denn eigentlich ist das ja nicht lustig. So wie vieles an diesem Abend. Was da an Fernsehproduktionen ausgezeichnet wird, ist ernste, teils schwere Kost.
Ein paar Beispiele: Die Dokumentation “Stark” erzählt von Ibrahim, einem syrischen Jugendlichen, der mit 14 (!) ohne seine Eltern in Deutschland ankommt, hier von einer Familie aufgenommen wird und einen neuen Bruder findet. “Ebola – Das Virus überleben” erinnert an eine Tragödie, der zuletzt mehr als 10.000 Menschen in Westafrika zum Opfer fielen und die ganze Familien nahezu ausgelöscht hat. Der Journalist Ashwin Raman war im Irak und in Syrien, machte dort unter anderem den Film “An den Frontlinien zum ‘Islamischen Staat’“.
“Polizei, nicht erschrecken. Können wir einmal reinkommen?” Das “Protokoll einer Abschiebung” vermittelt sehr eindringlich, wie das abläuft, wenn nachts um 3 Uhr die Staatsorgane an der Wohnungstür klingeln und eine Stunde Zeit geben, seine Sachen zu packen. Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern hatte dem Filmemacher Hauke Wendler keine Steine in den Weg gelegt, als er diese Szenen drehen wollte – im Gegenteil, man sei sehr entgegenkommend gewesen, erzählt er auf der Bühne. Um dann, den Preis in der einen Hand, die andere lässig in der Hosentasche, darüber zu spotten. Es sei ja allgemein bekannt, wie kritisch er an solche Themen herangehe. Aber “offenbar wird in der Pressestelle in Schwerin nicht so viel gegoogelt”, hahaha. Ob diese Art von Häme einen würdigen Preisträger ausmacht – ich persönlich hab da meine Zweifel. (Hätte das Ministerium sich gegen das Projekt gesperrt, wäre es eben genau dafür abgewatscht worden – zu Recht.)
Ein Mann im Trainingsanzug betritt die Bühne, an dem sich die Geister der Jury scheiden, denn die war sich ganz und gar nicht einig bei der Entscheidung, den Comedian Oliver Polak für “Applaus und raus – Wer langweilt, fliegt” auszuzeichnen. In der Talk-Sendung, die inzwischen abgesetzt ist, konnte Polak entscheiden, ob er sich weiter mit einem Überraschungsgast unterhält oder ihn rauswirft. Der Streit entzündete sich vor allem an einem Hashtag, mit dem ProSieben das Format beworben worden war: #GastoderSpast. Irre witzig. Nicht.
Zwei Angehörige der Jury, darunter der Vorsitzende, haben sich von der Preisentscheidung öffentlich distanziert. Jury-Mitglied Jürn Kruse von der taz erklärte sich in einem offenen Brief an Polak: “Das einzige, woran Sie mit diesem Reim mitgewirkt haben, ist die Etablierung eines Jahrzehnte alten Schimpfworts gegen Menschen mit Behinderungen.”
Bei der Preisverleihung war davon nicht mehr die Rede. Oliver Polak bedankt sich bei “zwei Dritteln der Jury”, hält die Trophäe hoch und streckt den Fotografen die Zunge raus. Cooler Typ. Nicht.
“Haltung” ist das zentrale Wort in der Laudatio, die CDU-Politikerin Annegret Kramp-Karrenbauer schließlich auf die letzte Preisträgerin des Abends hält. Senta Berger hat inzwischen eine 60-jährige Film- und Fernsehkarriere auf dem Buckel und marschiert dennoch ungebeugt auf die Bühne. Sie nimmt eine Auszeichnung entgegen, “die man in den letzten Jahren begonnen hat, Ehrenpreis zu nennen, wahrscheinlich geschuldet der Generation der neuen Alten, von denen noch so manche im Leben stehen, und die einen Lebenswerk-Preis nicht als abschließende Ehre empfinden wollten”.
Viele ihrer alten Weggefährten wären heute anwesend, sagt Senta Berger. Ich schaue runter auf all die jungen Hüpfer mit den Hipster-Bärten und frage mich, ob das wohl stimmt. Dann erinnert sie an einen, der nicht mehr da ist: Götz George habe Preise, die ihm meist am Ende eines langen Abends überreicht wurden, gerne so entgegengenommen: “Vielen Dank. Lassen Sie mich noch eine Worte sagen: Das Buffet ist eröffnet.”
Die Zuschauer lassen sich das nicht zweimal sagen. Verdutzt sehen wir die meisten bereits das Theater verlassen, als Jörg Thadeusz noch dabei ist, alle Preisträger*innen des Abends auf die Bühne zu bitten. Erst später werde ich verstehen, warum: Der Empfang findet zehn Fußminuten entfernt im Rathaus statt, und wer nicht rechtzeitig da ist, muss mit einem Teller in der einen und einem Glas in der anderen Hand lange nach einem freien Plätzchen an einem der Stehtische suchen. Dafür aber gibt es gute Chancen, sich unversehens neben einem Fernsehpromi wiederzufinden, der fast flehentlich fragt, wo ich denn dieses Bier her habe. Hat man auch nicht alle Tage. :)