Seit einigen Monaten muss ich mich an einen neuen Arbeitsweg gewöhnen. Die Frankfurter Rundschau ist nach ihrem Kauf umgezogen, aus dem beliebten Ebbelwei-Viertel in Sachsenhausen rüber auf die nördliche Mainseite, ins Gallus, das ehemalige Industrieviertel westlich der Innenstadt. Dort sitzen wir nun an der Mainzer Landstraße in der Nähe der Galluswarte. Wer Frankfurt kennt, weiß: Dieser Ortswechsel tut schon ein bisschen weh.
Das ist nun also passé: Durch die schöne Obermainanlage in die Redaktion radeln, von Ignatz-Bubis-Brücke und Mainkai aus allmorgendlich die Aussicht auf Fluss und Skyline genießen, bevor es Richtung Textorstraße geht, wo der Arbeitsplatz umringt ist von Cafés, Läden, Kneipen und Plätzen. Stattdessen führt mich die tägliche Velo-Route nun von Bornheim durch die Innenstadt (morgens um halb sieben hat man auf Zeil und Fressgass fast freie Bahn) an der Alten Oper vorbei zur Mainzer Landstraße. Ab hier ist die Strecke vor allem eins: lebensgefährlich.
Über die Mainzer Landstraße, eine langgezogene, meist vierspurige Piste, fließt ein scheinbar nie versiegender Autostrom zwischen der City und den westlichen Stadtteilen. Kaum eine Straße der Stadt steht so sehr für das Industriezeitalter, denn hier hat es für Frankfurt im 19. Jahrhundert begonnen.
Damals der Weg zum Galgen, heute der Weg zur Arbeit
Jahrhundertelang galt: Wer gegen seinen Willen auf diesem Weg aus der Stadt herausgekarrt wurde, auf den wartete mit hoher Wahrscheinlichkeit der Galgen. Denn hier, auf freiem Feld, war das Hochgericht, wo Frankfurt viele seiner Verurteilten hat hinrichten lassen. Es gab dem Quartier seinen Namen: Aus Galgenfeld wurde Gallusviertel, aus Galgenwarte die Galluswarte.
Man kann die Frankfurter Hinrichtungsstätte auf dieser Zeichnung von Johann Kaspar Zehender in der Ferne sehen. Vergleichen Sie mal damals mit heute: Bewegen Sie die vertikale Linie mit der Maus (oder tippen Sie auf dem Tablet auf eine der Bildseiten).
Gäbe es die Hinrichtungsstätte noch, sie stünde mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel. Man vermutet ihren Standort in der Moselstraße, wo sich heute ein Hotel befindet. Und dort, wo auf der Zeichnung Zehenders links und rechts des Weges nach Mainz freies Feld liegt, ist die heutige Mainzer Landstraße beherrscht von Banken, Versicherungen, Dienstleistern, Autohäusern, Lager- und Bürohäusern. Und von Baustellen: Alte Gebäude werden abgerissen oder entkernt, es wird neu gebaut, was das Zeug hält, es staubt und lärmt. Laster und Autos donnern schon vom frühen Morgen an, wenn mein Frühdienst beginnt, die Straße entlang.
Geschichte auf Schritt und Tritt
Wenn ich zu Fuß unterwegs bin und nicht darauf achten muss, dass mich keiner über den Haufen fährt, kann ich genauer hinschauen. Beim Mittagspausieren oder Feierabend-Flanieren habe ich endlich ein Auge für die alten Fassaden, die zwischen den Wolkenkratzern und Glaspalästen den ewigen Kreislauf von Bau, Abriss und Neubau überdauert haben.
Da steht zum Beispiel gleich nebenan, von meinem neuen Arbeitsplatz nur durch eine Baugrube getrennt, ein denkmalgeschütztes Gebäude aus der Gründerzeit. Die 1919 gegründete Marx & Traube GmbH baute hier Werkzeugmaschinen, bis das Unternehmen arisiert und in Matra-Werke umbenannt wurde. Letzte Nutzerin war die Commerzbank, derzeit steht das Haus leer.
Vor 100 Jahren war die Mainzer Landstraße von Häusern dieser Art gesäumt, eine Chausee der Fabriken, deren Verwaltungsgebäude mit ihren oft überraschend reich verzierten Fassaden das Bild der Straße seit dem 19. Jahrhundert prägten. Hier draußen, damals der westliche Stadtrand, störten weder der Lärm der Bronzefabrik F.A. Junge noch Gerüche oder Feuergefahren der Rüböl-Gasfabrik Schiele und Knoblauch, eines der ersten Industrieunternehmen der Straße.
Wo die Mainzer Landstraße beginnt, behaupten sich trotzig zwei wunderschöne Villen: Die Villa Seligmann und die Villa Sander. Ich freue mich immer wieder an diesem Anblick: Trianon-Hochhaus mit Deka-Bank links, Zwillingstürme der Deutschen Bank rechts – und dazwischen diese beide Relikte, das eine gebaut um 1870 für den Frankfurter Filialleiter der New Yorker Bank J. & W. Seligmann, das andere um 1904 von Friedrich Sander für den Frankfurter Hypotheken-Kreditverein. Und noch viel früher, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, saß auf dem Grundstück der heutigen Villa Seligmann die Frankfurter Patrizierin Clotilde Koch-Gontard in ihrem Garten und schwärmte von der Ruhe und ländlichen Idylle!
Mainzer Landstraße, Ecke Karlstraße: Ein unspektakulärer, weißer Riegel ist das Domizil des Verbandes der Chemischen Industrie. Wäre an einem der Gebäudepfeiler nicht eine Gedenkplatte eingelassen, man käme wohl kaum auf die Idee, dass hier einmal eines der Frankfurter Theater seine Heimstätte hatte.
Bei der Premiere des Neuen Theaters, das war 1911, gab man Kleists “Zerbrochenen Krug”. Der jüdische Direktor Arthur Hellmer holte in den Folgejahren Theo Lingen, Marianne Hoppe und Heinz Rühmann in sein Theater nach Frankfurt. Die Nazis zwangen ihn schließlich zur Emigration, übernahmen das Haus. Ab 1937 veranstaltete die NS-Kulturgemeinde hier “bunte Abende”. Die Gedenkplatte behauptet, das Theater sei im Krieg zerstört worden. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Zwar trug das Gebäude erhebliche Schäden davon, abgerissen wurde es aber erst 1953 – weil die Stadt sich nicht dazu durchringen konnte, das Theater neu zu errichten.
Mainzer Landstraße 86-92: Vier Gründerzeithäuser, die den Krieg weitgehend unversehrt überstanden haben, bilden einen architektonischen Kontrast zu den neueren Bauten rechts und links davon. In zwei der vier Häuser wurden einst Bordelle betrieben: Hausnummer 88 diente seit Sepember 1939 den in Frankfurt stationierten Wehrmachtsangehörigen ganz offiziell als Puff. In Hausnummer 86, einst ebenfalls ein Bordell (allerdings illegal), residierten zuletzt die Hells Angels, bevor ihr Clubhaus nach Razzia und Verbotsverfügung geräumt wurde.
Mainzer Landstraße, Kreuzung Güterplatz: Auf der Brache des ehemaligen Güterbahnhofs wird gerade das neue Europaviertel hochgezogen. Viele der hochpreisigen Wohnungen (mit Concierge-Dienst und Hundewaschplatz, bis 9000 Euro pro Quadratmeter) sind noch nicht bezugsfertig, aber der zugehörige Konsumtempel Skyline Plaza hat im letzten Sommer schon mal geöffnet. Jetzt werden die ersten Klagen der Ladenbetreiber laut: zu wenige Kunden, zu wenig Umsatz.
Hin und wieder verbringe ich meine Mittagspause im ersten Stock. “Food Court” nennt ihn das Plaza-Management. (Vermutlich muss man das mit geschürzten Lippen aussprechen.) Ich sage einfach Futterhof dazu. Man muss sich arrangieren und das Beste daraus machen. Langsam, ganz langsam mache ich meinen Frieden mit der Mainzer Landstraße. Ich ahne: Es gibt dort noch viel zu entdecken. Bislang kenne ich nur ein kleines Stückchen dieser langen, geschichtsträchtigen Straße, über die es übrigens ein lesenswertes Buch gibt: “Von der Straße nach Mainz zur Mainzer Landstraße”, verfasst von Renate Ullrich.