Berliner Mauerweg (4): Von Hennigsdorf nach Mitte

Tegeler Fließ bei Lübars

Tegeler Fließ bei Lübars

Die vierte und letzte Fahrrad-Etappe auf dem Berliner Mauerweg: Im Norden wird es noch einmal richtig dörflich. Wir schauen in den kopfsteingepflasterten Gassen von Frohnau am Haus des Liedermachers vorbei, der wie kein anderer das geschundene Berlin besungen hat. Am Tegeler Fließ, im Naturpark Barnim, im Dorf Lübars schnuppern wir noch einmal Landluft. Dann geht es zwischen den Bezirken Pankow und Reinickendorf und über den ersten offenen Grenzübergang Berlins an der Bornholmer Straße zurück nach Mitte, ins Herz der einst geteilten Stadt.

In den Gärten im Norden Berlins sind Wildschweine kein seltener Anblick. Sie buddeln den Boden auf, drücken Zäune nach oben, machen sich über Komposthaufen her. Die Klage einer Wirtin aus Waidmannslust, bei der ich vor vielen Jahren einmal wohnte, habe ich noch heute im Ohr. Hinter den letzten Häusern des nahen Frohnau im Bezirk Reinickendorf war West-Berlin zu Ende, und noch immer gibt die frühere Sektorengrenze dem Ortsteil Frohnau eine scharfe Kante nach Westen und Norden. Wer sie mit dem Fahrrad nachzieht, dem wird klar, dass Reinhard Mey das Lied von seinem “Dorf am Ende der Welt” wortwörtlich meinte.

Kolonnenweg bei Frohnau

Kolonnenweg bei Frohnau

Wachturm bei Hohen Neudorf

Wachturm bei Hohen Neudorf

Maueropfer Joachim Mehr

Maueropfer Joachim Mehr


Nahe der Florastraße, die die Invalidensiedlung im Norden Frohnaus heute mit der nördlich gelegenen Stadt Hohen Neudorf verbindet, endete 1980 das Leben der 18-jährigen Marienetta Jirkowsky. Die Hinterlandmauer und den Signalzaun hatten sie und ihre beiden Begleiter schon überwunden, als sie auf dem Kolonnenweg entdeckt wurden. Mindestens einer der 27 Schüsse von DDR-Grenztruppen traf sie tödlich. Der verantwortliche Postenführer, damals nur zwei Jahre älter als sein Opfer, wurde 1995 wegen Totschlags zu 15 Monaten auf Bewährung verurteilt.

Die Etappe im Überblick (51 Kilometer)

Bei Glienicke/Nordbahn zweigt der Mauerweg nach Osten ab – hier verlief die Grenze mitten durchs Moor. Das Tegeler Fließ schlängelt sich durch die Eichwerder Moorwiesen, ein wunderschönes Landschaftsschutzgebiet im Naturpark Barnim. Damals bildete das Fließ die Sektorengrenze, heute ist es die Landesgrenze zwischen Berlin und Brandenburg.

Im Naturpark Barnim zwischen Köppchensee und Blankenfelder Chaussee

Im Naturpark Barnim zwischen Köppchensee und Blankenfelder Chaussee

In Lübars, bis heute Dorf geblieben und daher von Touristen gerne heimgesucht, verstellte die Mauer auch nach der Wende die Blankenfelder Chaussee. Im Juni 1990 verlor der Landwirt Helmut Qualitz die Geduld – er setzte sich auf seinen Trecker und riss ein Loch in die Mauer. Voilà: Checkpoint Qualitz.

Wir saßen am Nachmittag zusammen und sagten: “Menschenskinder, wir könnten doch eigentlich die Mauer an der Stelle beiseite nehmen und die Blankenfelder Chaussee öffnen”.
Helmut Qualitz in einem Interview

Radlerin mit Radler in Lübars

Radlerin mit Radler in Lübars

Lübars, das märkische Dorf in Berlin, ist in jedem Fall eine Rast wert. Wir verlassen den Mauerweg, um uns im Alten Dorfkrug bei Radler und einer leckeren Spargelcremesuppe von einem nicht gaz so angenehmen Streckenabschnitt im Frohnauer Wald zu erholen. Merke: Ein Bobbes, der gut 140 Kilometer im Sattel hinter sich hat, ist nur noch begrenzt kopfsteinpflasterfähig.

Über die Quickborner Straße gelangen wir auf den Mauerweg zurück, streifen das Märkische Viertel, passieren den Bahnhof Wilhelmsruh und kommen am Volkspark Schönholzer Heide vorbei. Als Bolle jüngst zu Pfingsten reiste, da war dies sein Ziel. In den Park im damaligen Vorort Pankow zieht es die Berliner Ausflügler seit Mitte des 19. Jahrhunderts wie die Frankfurter an Pfingsten ins Wäldche.

Inzwischen regnet es wieder, und wir stellen uns mit einem heißen Kaffee unter, bevor wir die Bösebrücke über die Bornholmer Straße überqueren. Sie war in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 der erste offene Grenzübergang zwischen Ost- und West-Berlin.

Bösebrücke über die Bornholmer Straße: Links im November 1989, rechts im Mai 2013

Bösebrücke über die Bornholmer Straße: Links im November 1989, rechts im Mai 2013

Auf der anderen Seite der Bösebrücke verpassen wir den Abzweig. Über Umwege erreichen wir den Mauerpark, ein Grünstreifen mit Flohmarkt. Trotz des schlechten Wetters bevölkern viele Leute das Areal, karren Essen und Getränke auf Bollerwagen herbei, aus allen Himmelsrichtungen dringt Musik. Wir genießen einen Augenblick das quirlige Treiben, dann sitzen wir wieder auf und biegen in die Bernauer Straße ab.

So brutal wie hier wirkte die deutsch-deutsche Teilung wohl nirgendwo sonst. Im Süden, Westen und Norden Berlins lässt sich vielerorts der Verlauf von Mauer, Zäunen und Todesstreifen in der Landschaft noch immer erahnen. Hier aber versagt die Fantasie. Ich stehe an der Ecke Bernauer/Ackerstraße und frage mich einmal mehr: Wie kann man Fenster zumauern, Straßen kappen, eine Stadt mitten entzwei schneiden? Markierungen und ein Stück Rest-Mauer helfen meiner Vorstellungskraft auf die Sprünge. An Hausfassaden sind die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu sehen, die um die Welt gingen: Bauarbeiter, die Stein um Stein aufschichten. Aufgeschreckte Menschen, die erst ihre Habe und dann sich selbst aus den Fenstern herablassen. Der Volkspolizist Conrad Schumann, der über den Stacheldraht springt und dabei sein Gewehr wegwirft.

“Zum Gelingen der Flucht erzählte Sch., dass er von Zeitungsreportern gefragt worden sei, ob er nicht rüberkommen wolle. Daraufhin sagte er, da er ziemlich allein stand, er käme nachts rüber. Die Fotografen begannen nun, die in einiger Entfernung stehende Doppelstreife laufend zu fotografieren, worauf die übrigen Posten den Pressefotografen den Rücken kehrten und langsam in den SBS hineingingen. Schumann aber blieb stehen, um dadurch Abstand zu gewinnen. Als die anderen Posten sich weit genug entfernt hatten, sprang Sch. über den Stacheldraht und rannte in den Westsektor.”
Aus dem Bericht des DDR-Bereitschaftspolizisten Conrad Schumann über seine Flucht nach West-Berlin am 15. August 1961, 16. August 1961

Diese Computeranimation der Deutschen Welle zeigt, wie Mauer und Grenzstreifen an der Bernauer Straße ausgesehen haben.

Brandenburger Tor

Brandenburger Tor

Über den Dorotheenstädtischen und den Invalidenfriedhof erreichen wir schließlich das Brandenburger Tor. Das Handy zeigt insgesamt 185 Kilometer. In vier Tagen haben wir das ehemals ummauerte West-Berlin einmal umrundet. Wir spüren die frühere Grenze in den Beinen, haben die Geschichten ihrer Opfer in den Köpfen. Jetzt wird es Zeit für die Bilder vom Ende dieses Wahnsinns, die ich bis heute nicht ohne einen dicken Kloß im Hals anschauen kann: Die Öffnung der Berliner Mauer an der Bornholmer Straße am 9. November 1989.

Der Berliner Mauerweg im Überblick

Der GPS-Track weicht hier und da vom Radweg ab – etwa, um das jeweilige Hotel anzusteuern. Oder einfach, weil wir uns verfranst hatten. ;) Den exakten Verlauf des Berliner Mauerwegs als GPX-Track findet man u.a. im Radreise-Wiki.
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