Wahlwerbung

Wahltag – ein Tag der Illusionen. Jedenfalls für Jean-Jacques Rousseau. Über die Engländer schrieb er 1762:

Das … Volk glaubt frei zu sein, es täuscht sich gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts. Bei dem Gebrauch, den es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von ihr macht, geschieht es ihm recht, dass es sie verliert.

Wenn wir die Politiker haben, die wir verdienen – dann werden wir wohl auch die Show verdient haben, mit der uns Politik serviert wird. “Politische Journalisten” wie Ulli Deppendorf, der vor dem TV-Duell zwischen Steinmeier und Merkel über die wahnsinnig große Spannung im Studio schwadroniert und zwei Stunden später erklärt, dass alles so sachlich und nüchtern abgelaufen sei “wie von uns erwartet”, haben wir dann wohl nicht anders verdient. Neben Anne Will vor dem Duell und Anne Will nach dem Duell hätten wir eigentlich auch noch Anne Will während des Duells verdient, zur Halbzeitpause – aber das bekommen wir wohl erst in vier Jahren.

Neben einer Patricia Riekel, die gern mehr über den Pflaumenkuchen des Herausforderers gehört hätte, und einem arrogant-abgeklärt wirkenden Günther Jauch, der sich gar nicht erst Mühe gab, seine Genervtheit zu verbergen, wirkte ausgerechnet Edmund Stoiber geradezu erfrischend: Als einziger in der Runde hatte er nicht verstanden, dass es um Performance geht, nicht um Politik. Verbissen machte er Wahlkampf, wo andere augenzwinkernd die ihnen zugedachte Rolle als Jurymitglied der Castingshow ausfüllten – gelangweilt wie Klaus Wowereit oder peinlich bemüht wie Claus Peymann. Am Ende rutschte Stoiber auch noch die bittere Wahrheit heraus, dass heutzutage “natürlich niemand mehr Visionen hat”.

Das wird jeder sofort unterschreiben, der sich nur mal eine Sekunde lang Politikertypen wie Dirk Niebel vorstellt – einer, bei dem man auch mit viel Phantasie nicht auf die Idee kommen könnte, er sei dereinst in die Politik gegangen, um die Gesellschaft zu verbessern. Auch Guido Westerwelle, dieser “Klingelton für Besserverdienende” (Satire-Gipfel), gehört wie viele andere eher in die Kategorie der leidenschaftlosen Berufsrechthaber.

Trotzdem schielen unsere Wahlkämpfer heimlich auf Obama, den Visionär. “Yes, we can” steht auf vielen Wahlplakaten im Land, nur sind die Nachahmungen unterschiedlich plump. Die Schwarzen stellen das “Wir” in den Mittelpunkt, unterlegen es mit den Landesfarben und bleiben mit dem Zusatz “haben die Kraft” am nächsten dran am Original. Kraft für was? Egal, wer fragt schon nach Details. Die SPD ihrerseits dekliniert das Verb “können” in ihren Spots so lange rauf und runter, bis sie selbst glaubt, dass sie es können könnte, und verlässt sich ansonsten auf das Rhabarber-Getwitter eines Hubertus Heil.

Das Beispiel USA lässt unsere Wahlkämpfer ahnen: Das Volk steht auf Visionen. Aber sie wissen eben auch: Zur Not nehmen wir stattdessen auch die Abwrackprämie. Und die Not ist groß: Reden unsere Politiker von “Krise” (und das tun sie ohne Unterlass), dann meinen sie vor allem ihre eigene – ihre Ideenlosigkeit, ihre Ohnmacht, ihre Lethargie. Die Wirtschaftskrise kommt da gerade recht. Mit dem ihr geschuldeten Aktionsmus lässt sich prima zukleistern, dass sie Visionen für eine Gesellschaft der Zukunft nicht haben. Sogar Edmund Stoiber hat das verstanden.

War früher alles besser? Immerhin galten Politiker vor Jahrzehnten noch als leidenschaftliche Streiter für die eigene Überzeugung und nicht als Politdarsteller, die in erster Linie für dich selbst, ihr Mandat, ihr Auskommen, ihre politische Karriere, ihr Ego streiten. Dabei wusste schon der erste Kanzler der Bundesrepublik, wie man Politik mit persönlichem Interesse verknüpfen lässt, und wie man sich Medien in Wahlkampfzeiten zunutze macht. Doch selbst, wenn Politiker nicht mehr vom alten Schlage sind: Passen sie sich nicht einfach uns, dem Wahlvolk, an? Sind wir nicht auch längst zu faul, um uns mit Parteiprogrammen zu beschäftigen, zu träge, um für oder gegen irgendetwas zu demonstrieren, das uns nicht unmittelbar persönlich betrifft, zu abgestumpft, um Wahlkampfplakate zu verstehen, auf denen mehr als vier Worte stehen? Eigene Visionen? Das ist was für Leute, die zu viel Zeit haben.

Politik war und ist eine Ware wie jede andere. Parteien bieten sie an, Wähler werden als Kunden umworben, gezahlt wird am Wahltag – mit der Stimme. In Wahlkampf-Zeiten wird eben intensiv Produktwerbung betrieben, und Medien tun, was sie tun müssen: Werbeplätze verkaufen.