Lichter

Das schönste Licht ist das am Ende des Tunnels. Wenn die Sorgen um einen Menschen einer begründeten Hoffnung weichen, dass die Zeit des nächtlichen Aufschreckens beim Handyklingeln, der Anrufe beim Rettungsdienst, des Vom-Bett-ins-Auto-Springens, des Wartens morgens um 6 auf dem Hartschalensitz einer Notaufnahme  erst einmal zuende ist. Weil die Werte sich bessern, die Medikamente zu wirken beginnen, die akuten Beschwerden abklingen. Inzwischen sehen wir nicht nur das Licht – wir sind wohl wirklich raus aus dem Tunnel. Klar: Wann der nächste auf unserer Strecke kommt, weiß niemand.  Aber hier und jetzt haben wir ihn hinter uns, und das lässt mein Herz singen.

Draußen verändert sich derweil die Landschaft. Rund um unser Dorf sind seit Wochen die Mähdrescher unterwegs, in eine Wolke aus Getreidestaub gehüllt, die mit ihnen übers Feld wandert. Bis spät nachts sehen wir ihre Scheinwerfer auf der Anhöhe gegenüber. Die Wintergerste ist eingefahren, Weizen und Sommergerste sind so gut wie abgeernet, auch der Roggen ist fällig. Körnermais und Hafer haben noch Zeit zu reifen, doch davon gibt es hier nicht so viel.

Wo der Wind noch vor kurzem die grüne Ährenfrisur der Felder verwuschelte, knallt nun die Sonne auf strohgelbe Stoppeln. Das ganze Dorf ist davon umrahmt.

Die Feuchtigkeit in den Körnern muss unter 15 Prozent liegen, um zu ernten. Das Getreide lässt sich dann nicht nur besser schneiden und verklebt nicht die Maschinen – vor allem ist es erst dann lagerfähig, ohne zu schimmeln.

Von all dem habe ich keine Ahnung, aber einen Schwiegervater, der im ersten Beruf Landwirt war, und eine Physiotherapeutin, die auf einem Bauernhof groß wurde und mir modernes Landwirten näherbringt, während sie meinen vom monatelangen Homeoffice-Arbeiten auf einem Küchenstuhl lädierten Rücken repariert. „Keine Sorge, die atmen den Getreidestaub nicht ein. Die sitzen in ihrer rundum dichten Fahrerkabine voller Elektronik, klimatisiert, und hören Musik.“

Der unbeholfene Kranich breitet die Flügel aus

In meinen Morgenspaziergang durch Felder und Wiesen vor Arbeitsbeginn baue ich neuerdings ein paar unbeholfene Bewegungsabläufe ein. In einem einwöchigen Intensiv-Workshop konnte ich in Tai Chi sowie in das noch meditativere QiGong reinschnuppern und lasse nun ab und an frühmorgens den weißen Kranich die Flügel ausbreiten. Auch wenn es albern aussehen mag: Die zeitlupenlangsamen Bewegungen, das bewusste Atmen, die Entschleunigung tun mir gut – wie ein täglicher kleiner Urlaub. Was die Dörfler wohl sagen, wenn ich mich demnächst mal an der Schwertform versuche und auf der Anhöhe überm Ort dreimal den Mond umkreise, bevor ich mit quer über dem Haupt erhobener Klinge den “Großen Hauptstern des Großen Bären” ins Visier nehme?

Neulich auf dem Friedhof, den ich manchmal als Abkürzung auf dem Weg nach Hause nutze, machte ich eine Bekanntschaft. Ein alter Herr, in der Rechten eine Gießkanne, sprach mich an und fragte nach meinem Namen. Er habe mich „schunn e paar Mohl g‘seje“, sagt er, und müsse mich nun doch mal nach meinem Namen fragen. Ich stelle mich vor, erzähle, dass wir Ende des Jahres hergezogen sind, in das neue Haus am Siebenmorgenweg, er nennt ebenfalls seinen Namen und erwähnt nicht ohne Stolz, ein „alteingesessener Wersdorfer“ zu sein. „Wie schön, jetzt kennen wir uns!“, sage ich und freue mich ehrlich.