Eine Erinnerung

Februar 1995: Fünf junge Leute machen sich in zwei Autos auf den Weg vom Rhein-Main- ins Ruhrgebiet. Im Gepäck: PA-Anlage, Mikros, Keyboard, Gitarren. Das Ziel: Der Club “Neue Liebe” in Essen. Dort würden wir am Abend bei einem Song Contest auftreten.

Wir nannten uns “The Fresh Fruits” und alberten von Fahrtbeginn an ziemlich herum. Nur eine professionelle Musikerin war unter uns, wir anderen gingen allenfalls als Amateure durch. Ich hatte die Musik zu diesem Zeitpunkt schon längst an den Nagel gehängt und ewig auf keiner Bühne mehr gestanden. Man könnte also durchaus auf den Gedanken kommen, das ganze Unterfangen sei eine Schnapsidee – was in gewisser Hinsicht zutraf, denn Veranstalter war ein Tequila-Hersteller, der zum Musikwettbewerb aufgerufen hatte. D. hatte einen Song geschrieben und eingereicht, und der gefiel den Schnapsbrennern so gut, dass sie es in die Vorausscheidung schaffte. Die bestand aus mehreren Konzerten, bei denen jeweils eine Jury und das Publikum ihre Favoriten-Band wählten.

Und so kam es zur Gründung der Ein-Tages-Formation “D. & The Fresh Fruits”: T. am Bass, H. am Keyboard, K. und ich unterstützten Sängerin D. und übernahmen den Background-Gesang. Dazu dachten wir uns eine irre Tanz-Performance aus, für die man uns heutzutage vermutlich einem Drogentest unterziehen würde. Allein für den Spaß, den wir bei den Proben hatten, lohnte sich die Sache schon. Keine von uns ahnte, dass es noch besser kommen würde.

Obwohl uns auf der Autobahn eines der Autos im Stich ließ und wir uns samt Instrumenten und Technik in den anderen Wagen quetschen mussten; obwohl unter den Konkurrenten auch die Tochter eines bekannten deutschen Entertainers war, die uns kurz vor dem Beginn der Veranstaltung bezichtigte, wir hätten ihr Playback geklaut; obwohl wir unmittelbar vor unserem Auftritt dann doch noch nervös geworden und einen Tequila gekippt hatten: Wir gewannen die Vorausscheidung!

Den Rest der Nacht verbrachten wir in seliger Entrückung.

Ein paar Wochen später kam eine CD mit den Siegertiteln der Vorausscheidungskonzerte auf den Markt, aus denen wiederum der finale Gewinner gewählt werden konnte. Wer das am Ende war – ich weiß es heute nicht mehr. Vielleicht Lailo, offenbar die einzige damals teilnehmende Band, die heute noch zu existieren scheint.

Vorletzte Nacht bin ich aufgewacht, ohne erkennbaren Grund. Der Wecker zeigte halb vier. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder einschlafen konnte. Später erfuhr ich, dass H. in dieser Nacht um halb vier in ihrem Bett im Hospiz gestorben war.

So, wie die Erinnerung an diesen einen Abend wieder lebendig wird, so sehe ich sie vor mir: H., die vor fast fünfzehn Jahren in einem Club in Essen in die Tasten gehauen hatte wie ein Profi. Die das Leben so liebte, oft mehr als die meisten anderen. Die sich über alles Schöne unbändig freuen konnte. Die beim gemeinsamen Fußballgucken im Sommer 2006 schimpfen konnte wie ein Rohrspatz. Die es schaffte, mir noch vor ein paar Monaten eine riesengroße Freude zu machen, weil sie da war, obwohl es ihr sehr schwer fiel. Sie wurde 40 Jahre alt. Ich frage nicht mehr, warum.

Schön, das es dich gab, H.

Wenn Engel einsam sind
in ihren Kreisen,
dann gehen sie von Zeit
zu Zeit auf Reisen.

Sie suchen auf der ganzen Welt
nach ihresgleichen,
nach Engeln, die in Menschgestalt
durchs Leben streichen.

Sie nehmen diese mit
zu sich nach Haus –
für uns sieht dies Verschwinden
dann wie Sterben aus.
Renate Eggert-Schwarten