Das Ufer kommt näher, und ich merke: Ich bin zu schnell. Das Boot droht unsanft an die Kaimauer des Frankfurter Westhafen zu rumpeln. Ich ziehe am Gashebel, bis er mittig einrastet, und schalte den Motor so in den Leerlauf. Das Boot wird langsamer und gleitet nun im spitzen Winkel auf die Mauer zu, an der ich anlegen will. Als sich Bordwand und Beton berühren, fangen die Fender den Stoß ab. So weit, so gut. Aber wo ist die Leiter, an der ich eigentlich anlegen wollte? Ich habe sie verfehlt.
Ich schaue den Prüfer an. Der Prüfer guckt wortlos zurück und wartet. “Moment, ich korrigiere”, sage ich leicht hektisch, fahre noch ein Stück vor, dann zurück, lege dabei das Ruder in die falsche Richtung, das Heck dreht sich weg vom Ufer. Am Ende steht das Boot mit dem Bug vor der Mauer. So wird das nichts.
“Ich glaube, ich fange nochmal von vorne an”, wende ich mich an den Prüfer, und der nickt. “Das würde ich auch vorschlagen.”
Zum Glück hat man für alle Manöver, die bei der Bootsführerscheinprüfung zu fahren sind, zwei Anläufe. Bislang hatte alles auf Anhieb geklappt – naja, fast alles. Leinen los und ablegen, kursgerechtes Aufstoppen (also das Boot in Fahrt zum Stillstand bringen und dabei nicht vom Kurs abkommen), Wenden auf engstem Raum und vor allem das wichtige Boje-über-Bord-Manöver, bei dem neben den im Ernstfall für Leib und Leben entscheidenden Handgriffen auch die richtigen Kommandos erwartet werden: Mit all dem war der Prüfer bereits im ersten Versuch zufrieden. Auch meinen Achtknoten und meinen Kreuzknoten, meinen doppelten Schotstek, Webelein- und Palstek segnete er wohlwollend ab. Lediglich beim Belegen der Klampe verhedderte ich mich erst einmal. War klar. Es ist der Knoten, der mir von Anfang an Probleme machte.
Dabei scheint es so einfach zu sein, ich muss nur die Münchner Telefon-Vorwahl um zwei Hörner herum legen. Die Null und die Acht klappen ja easy, aber der letzte Schlag, die Neun, will mir lange nicht in den Kopf – bei diesem “Kopfschlag” wird die Bucht der Leine einmal um die eigene Achse gedreht, bevor sie um das Horn geworfen wird. Immer wieder drehe ich sie in der falschen Richtung, und heraus kommt etwas, das aussieht wie auf dem rechten Bild.
Steuerbord vor Backbord, Lee vor Luv – und warum links manchmal rechts ist (ganz unpolitisch betrachtet)
Bootfahren lernen, die Regeln auf dem Wasser kennen, Schilder, Lichter und Schallzeichen lesen und deuten können, in der Lage sein, ein Schiff zu schleusen, all das fasziniert mich, seit ich denken kann. Wasser und Schiffe haben mich seit jeher angezogen. Nachdem ich als Kind mit großer Ernsthaftigkeit einen Dreimaster nach dem anderen gemalt hatte, fand ich, dass es nun endlich Zeit ist für den nächsten Schritt. ;) Also meldete ich mich beim Segel-Center Frankfurt für den SBF Binnen an, den Führerschein also, mit dem ich Motorboote ab 15 PS aufwärts und mit einer Länge bis knapp 20 Metern auf Bundeswasserstraßen im Binnenbereich steuern darf.
Den Anfang macht das Theorie-Wochenende. In knapp zwei Tagen schippern wir einmal quer durch die Binnenschifffahrtsstraßen-Ordnung, liebevoll BinSchStrO abgekürzt. Es geht ein bisschen zu wie damals im Autofahrschul-Unterricht: An einer Tafel schieben wir magnetische Bootsrümpfe hin und her und lernen die Verkehrsregeln auf dem Wasser. Es zeigt sich, dass sie jenen auf den Straßen ähneln, jedenfalls dann, wenn sich zwei ebenbürtige Motorsportboote begegnen: Bei kreuzenden Kursen gilt dann rechts vor links, Verzeihung: Steuerbord vor Backbord. Die Variante für Segelboote heißt “Lee vor Luv”: Das Boot auf der dem Wind abgewandten Seite hat Vorfahrt. Segelboote haben zudem grundsätzlich Vorfahrt vor Motorbooten (es sei denn, die Segler werfen zusätzlich den Motor an, dann gilt wieder Steuerbord vor Backbord) und ebenso vor Kanus und Ruderern. Naja, und die Berufsschifffahrt hat sowieso immer Vorrang vor Freizeitkapitänen. Ich merke mir der Einfachheit halber: Mit einem Motorboot weiche ich allen anderen aus. Fast immer und überall.
Ich lerne, welche Schilder die Durchfahrt an Brücken regeln und welche auf Hindernisse, Untiefen, Fahrrinnenspaltungen oder auf Anker- und Liegeverbote hinweisen. Dass beim Anblick von blauen Flaggen Vorsicht geboten ist: Eine steht für brennbare Fracht, zwei für gesundheitsgefährdende Stoffe, drei für explosive Güter. Ich lasse mir beibringen, wie man in der Dunkelheit anhand der Farbe und Position der Lichter erkennen kann, ob das Schiff, das sich nähert, eine Segeljolle, ein Motorboot, eine Fähre oder gar ein Schub- oder Schleppverband ist. Und ich lerne nicht nur den Unterschied zwischen Wasserstraße und Fahrrinne, sondern auch den zwischen linkem und rechten Ufer – eine durchaus verwirrende Angelegenheit! Denn linkes Ufer bleibt auch dann linkes Ufer, wenn es in Fahrtrichtung rechts liegt (und umgekehrt). Betrachtet wird das auf Flüssen immer von der Quelle zur Mündung. Stromabwärts ist das linke Ufer also dort, wo der Daumen rechts ist (und umgekehrt). Für Bergfahrer hingegen liegt das rechte Ufer in Fahrtrichtung links (an Backbord) und das linke Ufer an Steuerbord.
Noch mehr verwirrende Regeln gefällig? Bitte sehr: Grün und Rot stehen für linke und rechte Seite – manchmal aber auch für rechte und linke Seite. Es kommt darauf an, ob es sich um Ufer oder Boote handelt. Grüne Spitztonnen markieren stets das (aus Talfahrersicht, siebe oben) linke Ufer und rote Stumpftonnen das rechte Ufer. Doch bei der Lichterführung an Motorbooten ist es genau umgekehrt: Nachts und bei unsichtigem Wetter ist Steuerbord ein grünes Licht zu setzen, Backbord ein rotes Licht. Alles klar?
Übrigens: Linke Uferseite = Grün, rechte Uferseite = Rot habe ich mir recht einfach merken können. R(rechts) = R(ot) – und “Linksgrün-versifft”. Ha! Endlich sind die täglichen Nettigkeiten, die unsere User der Redaktion an den Kopf werfen, mal für was gut.
Boje über Bord – was nun?
Der Theorie folgt die Praxis. Bevor ich an Bord gehe, lerne ich Umgang und Funktionsweise der automatischen Rettungsweste: Eine integrierte Zellulose-Tablette löst sich bei Kontakt mit Wasser auf, worauf sich eine Feder entspannt und zack! wird die Weste aufgeblasen – raffinierte Erfindung!
Endlich auf dem Wasser, gesellen sich zu “Steuerbord” und “Backbord” wunderbare neue Vokabeln wie “achteraus” und “querab”. Als Rudergängerin darf ich meinem Fahrlehrer Kommandos geben, rufe mit wachsender Begeisterung “Klar zum Ablegen”, “Achterleine los!”, “Fender rein!”, “Boje beobachten!”, “Klar zum Anlegen” quer durch den Frankfurter Westhafen.
Das wichtigste Pflichtmanöver ist die Rettung eines über Bord gefallenen Crew-Mitglieds. Mein Fahrlehrer schmeißt unerwartet eine Boje ins Wasser und ruft “Boje über Bord an Steuerbord” – nun muss alles ganz schnell gehen: Sofort den Motor auskuppeln, damit der Propeller stoppt und kein Blutbad anrichten kann, und das Ruder in Richtung der einen Menschen markierenden Boje legen, wodurch sich das Heck mit dem Außenborder von ihr wegdreht – auch dies eine Sicherheitsmaßnahme gegen Verletzungen. Dann eine Person bestimmen, die den über Bord Gegangenen nicht aus den Augen verlieren soll, das Kommando “Rettungsmittel auswerfen” nicht vergessen, wieder einkuppeln und zunächst drei oder vier Bootslängen mit dem Wind bzw. mit der Strömung wegfahren. Dann drehen und langsam wieder nähern – gegen den Wind, weil sich das Boot so sicherer manövrieren lässt. Ein bis zwei Bootslängen entfernt den Motor wieder auskuppeln (von wegen Blutbad-Gefahr), das letzte Kommando “Aufnehmen an Steuer- bzw. Backbord” geben und laaaaaangsam an der Boje vorbeigleiten, so dass sie an Bord genommen werden kann.
Zwei Fahrstunden lang übe ich dieses und andere Manöver, dann naht bereits die Prüfung. Theorie und Praxis werden am selben Tag stattfinden.
• — • — • — • — • — oder: Bleib weeeeeeg! Bleib weeeeeeg! Bleib weeeeeeeg! Bleib weeeeeeeg! Bleib weeeeeeeg!
Passenderweise habe ich zuvor eine Woche Urlaub – Zeit zum Pauken. Ich lerne Schilder und Farben und Schallsignale, merke mir, dass ein langer Ton für “Achtung!” steht, ein kurzer Ton für Steuerbord, zwei kurze Töne für Backbord, ein langer und ein kurzer Ton für “Wende über Steuerbord”, zwei lange und zwei kurze Töne für “Überhole an Ihrer Backbord-Seite”, drei lange Töne für “Biege in Hafen oder Einmündung ab”, drei kurze für “Fahre rückwärts”, vier kurze Töne für “Oje, bin manövrierunfähig”, und hoffe, dass ich nie in die Verlegenheit kommen werde, die Folge “lang kurz lang kurz lang kurz lang kurz …” zu vernehmen – das gefürchtete “Bleib-weg-Signal”. Beim Lernen hilft diese Website sowie eine App, mit der ich alle 15 offiziellen Fragebögen, ein jeder mit 30 Multiple-Choice-Fragen, beantworten kann. In der Prüfung wird einer davon vor mir liegen.
Ziemlich aufgeregt – meine letzte Prüfung ist so lange her, dass ich mich kaum erinnern kann – finde ich mich an einem Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe im Veranstaltungsraum eines Bootsclubs am Main im Frankfurter Stadtteil Fechenheim ein, um mit ungefähr 50 weiteren Anwärterinnen und Anwärtern die Theorieprüfung abzulegen. Mir wird der Fragebogen Nummer 15 zugelost. Nach zehn Minuten kann ich ihn ausgefüllt abgeben.
Für die Praxis muss ich einmal quer durch die Stadt zum Frankfurter Westhafen. Dort stehe ich wenig später in Rettungsweste am Ruder des Fahrschul-Motorboots und habe mich beim Anlegeversuch heillos vermanövriert. “Nur die Ruhe”, spricht der Prüfer, als ich zum zweiten Versuch ansetze. Der muss sitzen, sonst war’s das. Und es klappt. Ich drehe eine Runde, halte erneut im spitzen Winkel auf die Kaimauer zu, kupple diesmal rechtzeitig aus, lasse das Boot mit der Steuerbordseite an die Mauer gleiten, warte zwei Sekunden, drücke dann den Schalthebel nach unten in den Rückwärtsgang und lege das Ruder Richtung Ufer. Brav zieht der Radeffekt das Heck zur Leiter in der Kaimauer. “Leinen über und fest!”, rufe ich und schaue den Prüfer an. “Rückwärts ein bisschen zu viel Gas gegeben”, moniert er und lächelt dann: “Aber das ist nur ein Schönheitsfehler.” Bestanden. Ich habe den Bootsführerschein!
Und gut drei Wochen später ist das gute Stück dann endlich in der Post.