Tag 5 auf unserer Schiffsreise an der norwegischen Küste von Bergen nach Kirkenes: 300 Kilometer nördlich des Polarkreises bahnt sich die MS Spitsbergen am frühen Morgen ihren Weg zwischen den sechs Inseln der Region Vesterålen hindurch. Sie schließen sich gleich an die bekannteren Lofoten an, die wir nachts hinter uns gelassen haben – und von denen wir im Dunkeln leider viel zu wenig sehen konnten.
Ich tröste mich mit den vielen Bildern, die die Lofoten bei Tageslicht und schönem Wetter zeigen – und mit jedem Foto, das ich von diesem direkt aus dem Ozean wachsenden Hochgebirge sehe, wächst auch mein Wunsch, hierher zurückzukehren und länger zu bleiben.
Am liebsten im Sommer, zur Zeit der Mitternachtssonne. Bis dahin trösten wir uns mit der Aussicht, auf dem Rückweg die Gelegenheit zu einem Landgang in Svolvær zu nutzen, dem größten Ort auf den Lofoten.
Die Inselgruppe nördlich davon, die zur Region Vesterålen gehört, hat allerdings eine nicht minder spektakuläre Landschaft zu bieten: Zur offenen See hin erheben sich hohe, schroffe Berge, während sich in den Buchten der Vesterålen-Inseln weiße Sandstränden finden, die fast an die Karibik erinnern.Wir schippern durch fischreiche Gewässer: Lofoten und Vesterålen sind seit Jahrhunderten die Zentren des Kabeljaufangs in Norwegen. Noch häufiger als andernorts sind hier die charakteristischen, rot gestrichenen Fischerhütten zu sehen. Auch wenn die Berge steil zu den Ufern hin abfallen, findet sich zwischen den Felsen doch immer noch ein Plätzchen für eine Handvoll Rorbuer.
Die Bezeichnung setzt sich zusammen aus den norwegischen Begriffen für rudern (ro) und leben oder wohnen (bu). Traditionell dienten sie als Unterkunft während der Fangsaison: Bootsbesatzungen mieteten sich hier für ein paar Monate ein, zehn oder zwölf Mann dicht gedrängt in einer Rorbu. Mit der damals billigen roten Tranfarbe witterungsbeständig gemacht, ragen die Hütten oft auf Pfählen übers Wasser, so dass ihre Bewohner mit dem Ruderboot direkt anlanden konnten. Viele sind heute zu Ferienunterkünften umgebaut.
Exportschlager: Stockfisch aus Norwegen
Auf dem Foto oben erhebt sich hinter den Fischerhütten ein “stokk”, ein großes Holzgestell, wie man es vielerorts an der norwegischen Küste sieht. Sie dienen einer uralten Konservierungsmethode: Die Fische, meist ist es Kabeljau (Dorsch), werden von Kopf und Eingeweiden befreit, paarweise an den Schwanzflossen zusammengebunden und auf den Querbalken des Gestells im salzigen Wind drei Monate lang getrocknet. Danach sind sie bretthart und lange haltbar. Das wussten schon die Wikinger zu schätzen. Klippfisch wird ähnlich konserviert, zuvor aber gesalzen und zum Trocknen – daher der Name – auf Felsen ausgebreitet. Die Köpfe von Stock- und Klippfisch gehen zumeist als Fischmehl nach Afrika, vor allem nach Nigeria.
Früher ein Arme-Leute-Essen, gilt Stockfisch heute als begehrte Delikatesse – und Norwegen als einer der größten Exporteure. Vor allem die Südeuropäer stehen drauf. In Portugal kommt die Proteinbombe als Bacalao oder Bacalhau auf den Tisch: Bis zu 36 Stunden in mehrfach erneuertem Wasser eingeweicht, wird aus der streng riechenden, knochentrockenen Platte weiches Fischfleisch. In Italien ist “stoccafisso” eine traditionelle Fastenspeise.
In Norwegen wiederum bekommt man in jedem Supermarkt “Torrfisk”, getrocknete Stockfisch-Snacks in kleinen, mundgerechten Stücken, quasi wie in einer Chipstüte. Hab’s probiert – nicht mein Fall.
Was die Gegend hier zum Stockfisch-Zentrum macht, ist die alljährliche Wiederkehr eines Großereignisses: Im Winter wandert der Skrei, wie der geschlechtsreife arktische Kabeljau hier heißt, aus der Barentssee nach Süden, um in den Golfstrom-gewärmten Gewässern rund um die Lofoten zu laichen. Er wird bereits erwartet: Tausende von Fischer aus dem ganzen Land versammeln sich zwischen Januar und April zur Skrei-Jagd auf den Inseln.
Als der norwegische Schriftsteller Johan Bojer den „Lofotfischern” 1921 ein literarisches Denkmal setzte, waren es noch zwanzig-, dreißigtausend, die in diesen Monaten hinausfuhren. Am Ende der Saison hatten sie bis zu 100.000 Tonnen Kabeljau aus dem Meer vor den Lofoten gezogen. Das ist lange vorbei.
Jahrzehntelang hat die Hochseefischerei den Kabeljau ausgebeutet, und auch der Klimawandel trägt laut WWF seinen Teil dazu bei, dass die Bestände zurückgegangen sind. Ende der 1980er Jahre war der Fang vor den Lofoten auf ein Zehntel geschrumpft. Viele Stockfischgestelle blieben leer.
Nun – das kann man ja ändern. ;)
Noch immer gilt Kabeljau in dem Meeresgebiet, zu dem die Lofoten gehören, als überfischt – doch es gibt Hoffnung. Mit Fangquoten versucht die EU-Kommission, gegenzusteuern; Nicht-Mitglieder wie Norwegen handeln sie Jahr für Jahr neu mit der Europäischen Union aus. 2015 durften die Fischer in dem Seegebiet vor Nordnorwegen insgesamt 30.000 Tonnen Kabeljau fangen. Ihr persönlicher Anteil an der Quote bemisst sich nach der Länge ihres Bootes, und was sie aus dem Wasser ziehen, müssen sie akribisch im Fangbuch dokumentieren. Schwarzfischerei ist mit empfindlichen Geldstrafen belegt – wenn man erwischt wird.
“Paris des Nordens”: Tromsø
Über Harstad und Finnsnes erreichen wir am Nachmittag Tromsø. Den Beinamen “Paris des Nordens” verdankte es im 19. Jahrhundert wohl vor allem seiner Architektur, heute ist es auch die rege Kulturszene, die den Vergleich nahelegt. 30.000 Studierende machen die Tromsø zu einer jungen, lebhaften Metropole des Nordens.
Tromsø ist das Tor zum Eismeer: Hier stachen die Norweger zur Robbenjagd und zum Walfang in See, und drangen dabei bis an die Packeisgrenze vor. Von hier startete Roald Amundsen, um den magnetischen Nordpol und die Nordwestpassage zu finden. 1789, als im echten Paris die Barrikaden gestürmt wurden, fiel das Handelsmonopol von Bergen und Trondheim für Nordnorwegen – damit konnte auch das “Paris des Nordens” aufblühen. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Stadt von Zerstörung weitgehend verschont.
Wir sind jetzt auf einer Höhe mit den Nordküsten Alaskas und Sibiriens. Tromsø hat die nördlichste Universität der Welt, die nördlichste Brauerei der Welt (Mack), die nördlichste Kathedrale der Welt. Vor allem aber: Tromsø hat frischen Schnee! Und das heißt: Wir werden Husky-Schlitten fahren!
Wir legen an der Insel Tromsøya an, die auch das Zentrum der 75.000-Einwohner-Stadt Tromsø bildet. Vom Hafen bringt uns ein Bus über eine Brücke auf die benachbarte Insel Kvaløya, die “Wal-Insel”. Dort liegt auf einer Anhöhe oberhalb des Fjords das Villmarkssenter, eine große Husky-Farm mit mehreren hundert Tieren.
Entsprechend vielstimmig ist das laute Gebell, mit dem wir begrüßt werden. Wir stapfen durch den Schnee zum “Hunde-Dorf”: Hölzerne Doppel-Hütten auf kurzen Stelzen stehen über eine verschneite Ebene hinweg verteilt, jede beherbergt zwei Geschwister-Hunde. Viele sitzen auf dem Dach, springen schwanzwedelnd auf die Beine, wenn sich die neu eingetroffenen Gäste nähern.
Es sind Alaskan Huskys, die hier gezüchtet werden, und sie wirken sehr zutraulich: Neugierig beschnuppern sie uns, nur zu gerne lassen sie sich im feuchten Fell kraulen – und fordern, sobald man sich zum Weitergehen wendet, vehement weitere Streicheleinheiten.
150 Hunde leben derzeit hier, bis zu 300 sind es während der Hochsaison. Und es ist nicht zu übersehen: Sie alle sind heiß darauf, durch den Schnee zu rennen. Unser Schlitten steht schon bereit, zehn Tiere, die uns gleich durch den frischen Schnee ziehen werden, sind davor angespannt und warten ungeduldig jaulend auf ihren Einsatz. Bevor es losgeht, werden wir noch mit wasserfesten Hosen, Jacken und Stiefeln ausgestattet. Das ist auch gut so, denn das Rentierfell, mit dem die Schlitten ausgepolstert sind, ist klitschnass. Doch durch das Gummizeug, das wir übergezogen haben, dringt nichts durch.
Unser Hundeführer, der “Musher”, lässt uns im Schlitten Platz nehmen: eine hinten auf einem erhöhten Sitz direkt vor der Rückenlehne, die andere davor, an die Knie der Hinterfrau angelehnt, eine Decke über den ausgestreckten Beinen. Er selbst stellt sich hinten auf den Schlitten. Die Huskys an den Leinen bellen, ziehen und zerren – sie wollen, dass es endlich losgeht. Inzwischen ist die Sonne untergegangen.
Der Führungshund vorne ist fast immer eine Führungshündin. Weibliche Tiere würden sich besser als “Leader” eignen, erzählt unser Hundeführer – sie haben zum Beispiel ein besseres Orientierungsvemögen. Die Führungshündin bestimmt das Tempo, sie setzt die Kommandos des Musher um. Eine wichtige Funktion hat auch der “Wheeler”, der Hund direkt vor dem Schlitten, der meist besonders kräftig ist. Die Tiere dazwischen werden als “Swinger” bezeichnet.
Gut festhalten: Der Musher zieht den Anker aus dem Schnee, und die rasante Fahrt geht los – ganz genau so wie auf diesem Video, das ich auf Youtube fand:
Augenblicklich herrscht Ruhe: Das Bellen hört schlagartig auf, wenn die Hunde losrennen dürfen. Jetzt hören wir nur noch das schleifende Geräusch der Kufen im Schnee und ab und zu ein Glucksen und Kratzen, wenn der Schlitten über Senken hinwegfegt, in denen der Schnee zu Matsch getaut ist.
Unten am Fjord zeichnen sich die Lichter von Tromsø in der Dämmerung die Uferlinie nach, über uns spannt sich ein dunkler Himmel, während wir über die stille, weiße Ebene dahinsausen. Nichts vermag diesen magischen Moment zu stören. Ich glaube, ich habe fast die ganze Fahrt über gelächelt.
Handy und Kamera hatte ich an Bord zurückgelassen – aber die GoPro war dabei:
Nach einer knappen Stunde ist der magische Moment vorbei, wir sind auf unserem Rundkurs wieder an der Farm angekommen. Zum Abschied bedanken wir uns bei unseren Schlittenhunden mit ausgiebigem Streicheln – doch die sind ungeduldig, sie wollen auf die nächste Tour gehen.
Also schauen wir noch einmal bei den Welpen rein, die eine eigene Unterkunft haben, und dürfen sie so lange knuddeln, wie sie sich das gefallen lassen.
Schon früh und spielerisch werden die Jungtiere an Schlitten und Gespann gewöhnt. Huskys werden zwölf, vierzehn Jahre alt. Wann sie in Rente gehen, entscheiden sie selbst. Sie zeigen deutlich, wenn sie keine Lust mehr haben. Ihren Lebensabend verbringen sie in den Familien der Musher. Nicht selten haben die fünf, sechs oder sogar acht Hunde zuhause, wie wie erfahren.
Aufwärmen dürfen wir uns am offenen Feuer im Lavvo, einem traditionellen samischen Zelt, wo wir Tee aus der Holztasse und ein Stück Schokokuchen bekommen. Dann geht es zurück zum Hafen und wieder an Bord. Ein letzter Blick über den Sund auf das nächtlich beleuchtete Tromsø und die Eismeer-Kathedrale, die wir auf der südgehenden Route noch näher kennenlernen werden – dann fahren wr beseelt in eine weitere nordnorwegische Nacht hinein . Die nächste Station: Skjervøy.
Teil 1: Bergen: Wir gehen an Bord
Teil 2: Hjørundfjord – Urke – Ålesund – Molde
Teil 3: Kristiansund – Trondheim – Rørvik
Teil 4: Polarkreis – Bodø – Lofoten
Teil 5: Vesterålen – Tromsø
Teil 6: Honningsvåg – Nordkapp – Kjøllefjord – Mehamn
Teil 7: Berlevåg – Kirkenes – Berlevåg
Teil 8: Barentssee – Hammerfest – Tromsø
Teil 9: Harstad – Risøyrenna – Stokmarknes – Svolvaer
Teil 10: Polarkreis II – Sandnessjøen – Brønnøysund – Rørvik
Teil 11: Über Trondheim zurück nach Bergen
Danke für dieses Weihnachtsgeschenk: ein neuer Blogeintrag über Eure Reise. Hach, da kamen manche Erinnerungen hoch über meine Hundeschlittenfahrt. :-) Ich hatte mir das damals auch so vorgestellt, wie hier von Dir beschrieben. Umso erstaunter und auch erschrockener war ich, als uns eröffnet wurde, dass wir selber die Schlitten und Hunde lenken sollten. Nach einem – ungelogen 5minütigen Crash-Kurs – ging es los. Nicht ohne uns einzuschärfen, dass wir auf keinen Fall die Führungsleine loslassen dürften, komme was wolle, es sei denn wir wollten zu Fuß und ohne Hunde und Schlitten wieder zurückkommen. Ich habe selten so Blut und Wasser geschwitzt wie bei dieser Hundeschlittenfahrt. Erst gegen Ende war ich in der Lage auch etwas die Landschaft zu genießen, weil ich erst da halbwegs raushatte, wie es geht und mich nicht pausenlos auf die Hunde und den Schlitten konzentrieren musste. Wie oft ich vom Schlitten gefallen und mich wieder aus dem Schnee erheben musste, erzähle ich lieber nicht. Wenigstens hab ich die Leine nicht losgelassen. ;-)
Sehr gelacht habe ich über das Foto “Feel like a Skrei …” :-)))))
P.S. Mir einen Husky-Welpen als Reisemitbringsel mitzubringen, daran hast Du natürlich nicht gedacht! ;-) Den hättest Du problemlos in einer Tasche rausschmuggeln können! :)
Waaahaaaa! Na, da kann ich ja von Glück sagen, dass ich diese Arbeit getrost einem Profi-Hundeführer überlassen, mich zurücklehnen und genießen konnte!
Und übrigens kannst du dich auf ein Nachweihnachtsgeschenk freuen: Den nächsten Teil des Reiseberichts gibt’s noch im alten Jahr! :)