Gewöhnung an den Ausnahmezustand

Der Ausnahmezustand fĂŒhlt sich mehr und mehr nach Regelzustand an. Man gewöhnt sich: An geschlossene GeschĂ€fte, an die immer lĂ€nger werdenden Haare auf dem Kopf, an FlatterbĂ€nder, die SpielplĂ€tze und SportstĂ€tten zu verbotenen Zonen deklarieren, an die Leerstellen in den Regalen, wo sonst Klopapier und Hefe lagern. Daran, dass das Einkaufen lĂ€nger dauert, weil wir im Supermarkt wie selbstverstĂ€ndlich Umwege nehmen, wenn der direkte Weg zum gewĂŒnschten Produkt die Gefahr zu großer NĂ€he zu einem fremden Menschen birgt. Daran, dass die große Mehrheit der Einkaufenden, wenn sie doch mal unvermittelt in einem Gang aufeinandertreffen, sich entschuldigend anlĂ€cheln und bereitwillig ausweichen. Dass an den Kassen KlebebĂ€nder auf dem Boden und bewestete Mitarbeiter uns wenigstens fĂŒr eine kurze Zeit von davon entlasten, das Einhalten von anderthalb bis zwei Metern Abstand mit bloßem Augenmaß zu bestimmen. Obwohl – ich glaube, darin sind wir inzwischen ganz gut. Manche scheinen sich aber auch so sehr an die latente Gefahr zu gewöhnen, dass sie auf den Mindestabstand inzwischen pfeifen. Weiterlesen →

Greta tut weh

Vielleicht ist ein Teil der Wut, die der Umweltaktivistin Greta Thunberg entgegenschlĂ€gt,  im Grunde nichts anderes als eine EnttĂ€uschung. Die EnttĂ€uschung der WĂŒtenden ĂŒber sich selbst.

Weil wir wissen, dass Greta Recht hat. Weil wir das schon wussten, lange bevor Greta geboren wurde. Weil wir selbst einmal wie Greta waren: rebellisch, stur, kĂ€mpferisch und so ĂŒberzeugt fĂŒr eine Sache eintretend, dass es uns egal war, was andere von uns halten.

Doch das ist lange her.  Es war vielleicht Ende der 60er Jahre, als es gegen die Alt-Nazis in Behörden und Parlamenten gingen. Oder in den 70ern, als “Die Grenzen des Wachstums” erschien, uns aufrĂŒttelte – und trotzdem nichts zu bewirken schien, wie heute deutlich wird. Als der Kampf gegen Atomkraft oder fĂŒr SolidaritĂ€t mit ausgebeuteten LĂ€ndern sich in Sitzblockaden oder Reisen zu Kaffeeplantagen in Nicaragua manifestierte. Vielleicht war es in den 80ern, als wir gegen das Waldsterben zu Felde zogen, fĂŒr Frieden und gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstrierten, die Bonner Hofgartenwiese schwarz fĂ€rbten. Einige der heutigen Greta-Kritiker waren vielleicht Teil der legendĂ€ren Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm, andere hausten aus Protest in einem HĂŒttendorf, an der geplanten Startbahn West in Frankfurt oder in der Republik Freies Wendland.

Egal, bei welcher dieser oder anderer Gelegenheiten: Irgendwann einmal waren viele von uns “Greta”. Wir haben das vergessen. Oder verdrĂ€ngt. Vor unseren Enthusiasmus schob sich das Leben. Die Bereitschaft (vielleicht auch die FĂ€higkeit), weiter zu schauen als bis zu den nĂ€chsten Schritten in der persönlichen Lebensplanung, schwand. Andere KĂ€mpfe waren wichtiger geworden: um Ausbildung, Job, Familie. Um Gesundheit. Die Zukunft, um die es uns nun ging, war in erster Linie die ganz persönliche. Das Gewissen beruhigen wir seitdem, indem wir Ökostrom beziehen, den Fleischkonsum runterfahren und das Hybrid-Auto so oft wie möglich stehenlassen. Nur manchmal noch schafft es eine alte Melodie, die Erinnerung an kĂ€mpferische Zeiten zu wecken: “Alle, die ihr Unbehagen immer nur im Magen tragen, nicht wagen, was zu sagen, nur von ihrer Lage klagen, sollen aufstehen!”

Das soll nicht anklĂ€gerisch klingen. Sich ums eigene Leben zu kĂŒmmern ist ja nicht verwerflich. Aber vielleicht erklĂ€rt es die verstörende Wut auf eine Jugendliche, die nichts anderes tut, als das, was wir in diesem Alter taten – nur konsequenter: Sich kompromisslos fĂŒr eine wichtige Sache einsetzen. Daran erinnert zu werden, tut weh – weil wir irgendwann aufgegeben haben. “No future” hieß es damals bei uns, Fridays for Future heißt es in der Generation meiner 14-jĂ€hrigen Nichte.

Ich bin verdammt stolz auf diese Generation.

Nein.

Ich schau zu lange schon zu. Rede zwar viel ĂŒber das, was da gerade passiert, ĂŒber die Nazis, de Rechtsextremen, die Menschenfeinde, die MenschenfĂ€nger, die politischen MissbrauchstĂ€ter. Über die AfD, diesen politischen Arm einer zutiefst demokratiefeindlichen Bewegung, ĂŒber die unfassbare Dummheit, die sich auf den Straßen wie im Netz Bahn bricht, und fĂŒr die der HuttrĂ€ger aus Dresden nur symbolisch steht. Kein Arbeitstag, keine Redaktionskonferenz, keine abendliche Runde mit Freund*innen mehr, an dem all das nicht Thema ist. Aber eben nur im mehr oder weniger kleinen Kreis. Auch wenn es gut tut, die Fassungslosigkeit, die Empörung, die nackten Sorgen mit alten und neuen Freundinnen und Freunden zu teilen: Es reicht nicht mehr.

Ich war lange genug wie paralysiert, weil das doch eigentlich gar nicht sagbar ist, was die sagen, nicht hier, nicht in diesem Land mit dieser Geschichte. MĂŒssen echt erst die Alten kommen, Konstantin Wecker mit seinen 71 und Hannes Wader mit seinen 76, um Klartext zu sprechen?

Damals hÀtten wir nie gedacht, dass man sich 40 Jahre spÀter mit einer neuen Generation von hirnamputierten Faschisten wieder herumschlagen muss.

Ok, also Arsch hoch und ZĂ€hne auseinander. Es gibt genug Gelegenheiten – und zudem reichlich KlebeflĂ€che da draußen.

Das Agitationsmaterial ist eingetroffen.

Showdown im Mittelmeer

Die VorgĂ€nge im Mittelmeer werden immer grotesker. Europa schottet sich immer weiter ab, die KernlĂ€nder der EU lassen die Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen völlig allein, Politiker reden fast ausschließlich ĂŒber die bösen Schlepper und nun auch ĂŒber die bösen NGOs, auf deren Schultern die MĂŒhe um die Rettung von Menschenleben inzwischen quasi allein ruht. Aus dem ohnehin nicht ernstgemeinten Gerede ĂŒber das BekĂ€mpfen von Fluchtursachen ist ein vehementes BekĂ€mpfen von Schlauchbooten und Außenbordmotoren geworden. Das ist nur noch zynisch. Weiterlesen →

Quiz zur Bundestagswahl: Die Wahlprogramme im Wortwolken-Vergleich

In elf Wochen ist Bundestagswahl – und der Satz “Ich weiß nicht, was ich wĂ€hlen soll” fĂ€llt in meiner Filterblase diesmal noch öfter als sonst. Die Ereignisse des vergangenen Jahres scheinen viele, die sich bislang klar einem Lager zugehörig fĂŒhlten, verunsichert zu haben. Eine unionsgefĂŒhrte Bundesregierung hat die Wehrpflicht abgeschafft, den zweiten Atomausstieg initiiert, das Dosenpfand eingefĂŒhrt. Auf dem Höhepunkt der Fluchtkrise bleibt ausgerechnet Merkel als Einzige besonnen (um dann knallhart die Asylgesetze zu verschĂ€rfen). Und am Ende macht die Kanzlerin auch noch den Weg fĂŒr die Ehe fĂŒr alle frei (um dann dagegen zu stimmen): Das soll die AnhĂ€nger beider Lager mal nicht verunsichern!

Es hilft nichts: Wir werden uns die MĂŒhe machen mĂŒssen, Wahlprogramme zu lesen.

Einen allerersten (und mitunter unerwarteten) Eindruck gibt die Wortwolke: Welche Begriffe kommen im Programm besonders hĂ€ufig vor, sind also den Parteien offenkundig wichtig? Die quantitative Auswertung gibt darĂŒber Auskunft. BerĂŒcksichtigt sind jene Parteien, die (voraussichtlich, seufz) in den Bundestag einziehen werden. Weiterlesen →